Solidarität – zueinander Sorge tragen

  24.09.2021 Kirche

Wer kennt sie nicht, die Samaritervereine, wie es auch hier im Saanenland einen gibt? Schweizweit werden von den Samariterinnen und Samaritern jährlich über 100’000 Stunden Einsatz bei Rettungen, Erster Hilfe und in Krisensituationen wie der gegenwärtigen Corona-Pandemie geleistet sowie Kurse in Lebensrettung und Erster Hilfe angeboten.

Samariterin, Samariter – genau, ihre Namensgebung und ihr Engagement stammen ursprünglich von jener Beispielgeschichte her, die Jesus seinerseits dem fragenden Schriftgelehrten erzählte (siehe unten stehenden Bibeltext).

Der Kern der Geschichte
Was macht den Kern dieser Geschichte aus? Auf dem Weg, auf welchem Jesus von Galiläa nach Jerusalem zieht, wird er in Samarien nach der Hauptsache des biblischen Gesetzes gefragt. «Was muss ich tun», fragt der Schriftgelehrte, «damit ich nach dem Tod zu Gott komme?» Und er gibt selbst die Antwort: «Ich soll Gott von ganzem Herzen lieben. Und meinen Nächsten soll ich lieben wie mich selbst.» Daraufhin spitzt er seine Frage zur Frage nach dem Nächsten und nach der Nächstenliebe zu: «Aber sage mir, Jesus: Wer ist denn mein Nächster?»

Wer hat Anspruch auf Nächstenliebe?
Dies ist eine der zentralsten Fragen überall da, wo Menschen zusammenleben, sei es in der Familie, in der Gemeinde, in unserem Land usw. Das Problem, welches der Schriftgelehrte anspricht, lautet: Wer hat wirklich Anspruch darauf, dass ich ihn beachte und ehre und ihm in einer Notlage helfe? Natürlicherweise sorgen Eltern für ihre in vielem noch unselbstständigen Kinder und unterstützen sie. Mit den eigenen Eltern, die alt werden, ist das vielleicht schon nicht mehr so selbstverständlich ...

Auch im alten Israel wurde die Frage nach dem Nächsten in späterer Zeit in der Praxis zunehmend in einschränkendem Sinn beantwortet. Zur Zeit Jesu bedeutete das Wort «der Nächste» allgemein soviel wie «Glaubensgenosse», politisch-religiöser «Gesinnungsgenosse» oder «Parteifreund».

In der Beispielgeschichte vom barmherzigen Samariter macht Jesus diese gefährliche Verengung sichtbar und weitet den Begriff «Nächster» in einer Art und Weise aus, die bisher nicht bekannt war.

Wo bleibt die Mitmenschlichkeit?
Gerade Menschen, die sich besonders für eine Sache engagieren – in dieser Geschichte die religiös speziell Eifrigen – stehen in Gefahr, aufgrund ihrer Kämpfe und Abgrenzungen in Glaubens- oder Gesetzesfragen die Not anderer Menschen zu verdrängen oder sehenden Auges daran vorbeizugehen.

Die Mitmenschlichkeit, die eigentlich vom jüdischen Gesetz eingefordert wird, bleibt dabei auf der Strecke liegen. Das typisch fromme Fehlverhalten wird in den Figuren des Priesters und Leviten bzw. Tempeldieners dargestellt und scharf kritisiert. Die Samaritaner – oder Samariter – waren damals bei allen jüdischen Religionsparteien verhasst und verachtet.

Damit, dass hier ausgerechnet ein solcher Samariter das Richtige tut, macht Jesus deutlich, dass es auch ausserhalb der Kreise, die sich für auserwählt und für Gottes Volk halten, Menschen gibt, die den Willen Gottes weit besser erfüllen als sie selbst.

Die Umkehrung der Frage
Der Clou der Beispielgeschichte, die Jesus vom barmherzigen Samariter erzählt, liegt darin, dass Jesus die Frage des Schriftgelehrten «Wer ist mein Nächster?» sozusagen umkehrt: «Welcher von diesen war der Nächste?» Ist es hier der Verwundete?

Jesus zwingt seinen Gesprächspartner dazu, seinen ichbezogenen Standpunkt aufzugeben, sich in die Situation des anderen zu versetzen und so von ihm aus den Begriff des Nächsten neu zu bestimmen. Diese Umkehrung ist eigentlich schon im alttestamentlichen Liebesgebot «Meinen Nächsten soll ich wie mich selbst lieben» angelegt. Oder anders formuliert: «Wie würdest du den anderen lieben, wenn der andere du selber wärst?»

Helvetia ruft
Gerade auch für das Zusammenleben in unserem Land gilt, was Jesus versuchte, dem Schriftgelehrten klarzumachen. Wir alle wissen, dass ein gelingendes Zusammenleben nicht von selbst entsteht, sondern dass jede und jeder zum anderen Sorge tragen muss. Eines der bekannten Symbole unserer Heimat ist die Figur der Helvetia. Diese Figur, die auch auf unseren Münzen abgebildet ist, steht für Gleichberechtigung und Chancengleichheit in unserem Land. Alle Menschen sollen über gleiche Rechte und Chancen verfügen. Dann kann es uns als Gesellschaft gelingen, die verschiedenen Stimmen zu hören und damit eine gemeinsame Zukunft für alle zu gestalten. Indem wir uns für jene engagieren, die mit Ungleichheit konfrontiert sind. Das gehört, wie gesehen, ganz zentral zum Auftrag der Kirche.

Wer ist betroffen?
Vor 50 Jahren wurde in der Schweiz das Frauenstimmrecht erkämpft. Eine wichtige Errungenschaft, damit Frauen in der Politik gehört werden. Noch immer aber können viele Menschen nicht ausreichend mitbestimmen. Denken wir an Menschen mit geistiger Beeinträchtigung, an Menschen mit Migrationshintergrund oder auch an Jugendliche. Und denken wir an jene, die wegen Corona gesundheitliche und wirtschaftliche Schäden erleiden oder jene, die aus der geltenden «Norm» fallen.
Wie immer wir auch politisch verankert sind und denken mögen, für uns alle gilt dieser biblische Grundsatz, den Jesus seinerzeit zum Aufleuchten gebracht hat: «Wie würdest du den anderen lieben, wenn der andere du selber wärst?»

PFARRER PETER KLOPFENSTEIN


DIE GESCHICHTE VOM BARMHERZIGEN SAMARITANER (LUKAS 10,25–37)

«Da stand ein Gesetzeslehrer auf und sagte, um Jesus auf die Probe zu stellen: Meister, was muss ich tun, damit ich ewiges Leben erbe? Er sagte zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du da? Der antwortete: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit all deiner Kraft und mit deinem ganzen Verstand, und deinen Nächsten wie dich selbst. Er sagte zu ihm: Recht hast du; tu das, und du wirst leben. Der aber wollte sich rechtfertigen und sagte zu Jesus: Und wer ist mein Nächster?

Jesus gab ihm zur Antwort: Ein Mensch ging von Jerusalem nach Jericho hinab und fiel unter die Räuber. Die zogen ihn aus, schlugen ihn nieder, machten sich davon und liessen ihn halb tot liegen. Zufällig kam ein Priester denselben Weg herab, sah ihn und ging vorüber. Auch ein Levit, der an den Ort kam, sah ihn und ging vorüber. Ein Samaritaner aber, der unterwegs war, kam vorbei, sah ihn und fühlte Mitleid. Und er ging zu ihm hin, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm. Dann hob er ihn auf sein Reittier und brachte ihn in ein Wirtshaus und sorgte für ihn. Am andern Morgen zog er zwei Denare hervor und gab sie dem Wirt und sagte: Sorge für ihn! Und was du darüber hinaus aufwendest, werde ich dir erstatten, wenn ich wieder vorbeikomme.

Wer von diesen dreien, meinst du, ist dem, der unter die Räuber fiel, der Nächste geworden? Der sagte: Derjenige, der ihm Barmherzigkeit erwiesen hat. Da sagte Jesus zu ihm: Geh auch du und handle ebenso.»

(Übersetzung der Neuen Zürcher Bibel)


«DIE FALBFARBENE LÖWIN»

Am 22. Oktober findet um 18 Uhr im Ciné-Theater Gstaad eine Lesung von Jean-Paul Lutz, Pfarrer und Buchautor, statt. Er liest aus seinem neuen Roman «Die falbfarbene Löwin» vor, in dem Jean auf der Suche nach seinem verlorenen weiblichen Selbst ist. Anschliessend gibt es ein Gespräch. Der Eintritt ist frei, es wird eine Kollekte erhoben. Achtung: Auf der Webseite relatio.ch muss man sich vorgängig anmelden (es gilt Zertifikatspflicht).

 


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