Erzählnacht mit drei Gängen

  16.11.2021 Gsteig

In der Bibliothek Gsteig wurden am vergangenen Freitagabend drei Gänge serviert: Als Amuse-Bouche gab es einen Appell von Königin Corona, zum Hauptgang ein erntefrisches Geschichtenbuffet und zum Dessert kulinarische Happen.

Aus der Feder von Franz Hohler höchst persönlich stammt die Ansprache an das Volk von Königin Corona, die vor bald zwei Jahren mit ihrem Ehemann, König Covid, aus China angereist war. Königin Corona sagt: «Das, was ihr hinter euch habt bis jetzt, war die Hauptprobe.» Sie habe mit uns den Stillstand üben und uns zeigen wollen, wie ein anderes Leben aussehen könnte. Sie gibt zu, der Preis sei hoch gewesen, doch er werde es auch sein, wenn wir weiterleben wollten, ohne die Erde zu schädigen. Sie fordert uns auf zu überlegen, «wie ihr in Zukunft die Arbeit anders verteilt und das Geld.» Das aufrüttelnde und vor allem brillant verfasste Gedicht wurde von Marianna Bettler vorgetragen.

Erntefrisches Geschichtenbüffet
Zum Hauptgang bestückten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Schreibwerkstätten 2020 und 2021 das Geschichtenbuffet mit Texten, die im Kurs oder nebenher entstanden sind. Ebenfalls hielten drei Geschichten von Schülerinnen und Schülern aus Gsteig Einzug. Die verschiedenen Gerichte stellte Liliane Studer vor. Sie ist OK-Mitglied des Literarischen Herbstes Gstaad und Schreibwerkstattleiterin. An der Werkstätte verteilte sie jeweils Rezeptvorgaben, anhand derer die Schreibenden Texte verfassten. Jede und jeder verwendete dazu marktfrische Zutaten aus seinem Erfahrungsschatz und würzte das Gericht mit Inspiration.

Tausendernotenkleid und Mundart
Bereits bei der ersten Geschichte, staunten die Zuhörer. «Ich nähe mir aus den Tausendernoten ein Kleid», sagt eine Frau, die den Auftrag erhalten hatte, 80’000 Franken nach Venezuela zu transportieren. Auf diese Idee kam Therese Rütschi in ihrer Geschichte «Das Telefongespräch». Erst ganz am Schluss entpuppte sich die unglaubliche Geschichte als Traum. Da Therese Rütschi abwesend war, erzählte Marianne Bettler ihre Geschichte.

Edwin Oehrli las aus seinem Roman «Der Butler und die Bäuerin», einer weltumspannenden Geschichte, die vor keinem Thema Halt macht und einen visionären Ausblick ins Jahr 2041 gibt: Die Weltregierung tagt am Hauptsitz der UNO und alle ehemalige Autokraten wohnen in abgeschotteten Luxusresidenzen am Kap Idokopas am Schwarzen Meer, wo sie Fake News lesen und Virtual-Reality-Regieren spielen und dabei ganz zufrieden sind.

Eine genaue Beobachterin des Zeitgeistes ist Evelyne Moser. Ihre Mundartgedichte fühlen dem pulsierenden Alltag auf den Zahn. Fokussiert auf die Arbeit sei das Handeln manchmal egozentrischem geprägt. Die Turbacherin fordert uns auf, gemeinsam durchs Leben zu gehen: «Für zäme bruchts Kulanz u Toleranz u mängisch es tous Abwiche vo de igete Vorstellige – zu Gunschte vom Mitenand.»

Grossvater und Gold
Alexandra Borgeaud erinnert sich in zärtlichen Worten an ihren Grossvater, der verstorben ist, als sie fünf Jahre alt war. Sie denkt sich hinein, in seine Geschichte, die nahe der russischen Grenze begonnen hatte. Für ein besseres Leben wollte er über Hamburg in die USA reisen, um dort Arbeit zu finden. Ob er die Reise angetreten hat?

Ebenfalls über den Grossvater erzählte Markus Rütschi, Theres Rütschis Bruder. Hans, der Grossvater, sei ein Mann gewesen, der viel in der Spinnerei Boller gearbeitet hatte, zu der er über eine steile Treppe den Wald hinuntergelangte und die er nach zwölf Arbeitsstunden müde wieder hochkletterte. An einem Tanznachmittag, eine der wenigen Abwechslungen in seinem Leben, hatte er seine Frau kennengelernt: «Mehr mit seinem lieblichen Charme als seinen tänzerischen Fähigkeiten erobert Hans das Herz von Luise.»

Vom farbigen Stadtleben, das für eine Jugendliche mit blauem Haar sehr anziehend wirkt, erzählt Blanca Burri. Ihre Hauptfigur kehrt am Abend ins Elternhaus aufs Land zurück und glaubt, im Gold der Abendsonne zu ertrinken.

Das Ausziehen aus einem Haus, in dem man lange lebte oder das Leben nach einer schicksalhaften Wendung kann herausfordernd sein. Dies beschreibt Leonora Schulthess in der Kurzgeschichte «Die leere Bibliothek». Die Hauptfigur kann sich fast nicht von ihrem alten Zuhause lösen, wo sie ihre Kinder aufgezogen hat und wo ihr Lieblingsraum, die Bibliothek nun leer und öde dasteht und die Erinnerungen bereits verblassen. Zurück in der Realität: In Gsteig war die Bibliothek am vergangenen Freitagabend nicht leer. Im Gegenteil. Es mussten Stühle herbeigeschafft werden, um dem interessierten Publikum eine Sitzgelegenheit zu bieten. Die Lesepausen wurden von Annemarie Jegerlehner mit Melodien von der Sopran- und Altflöte erfüllt. Schade, kann man sie in der Zeitung nicht abdrucken …

Kulinarische Happen zum Dessert
In Gsteig hat die Erzählnacht Tradition. Dafür sorgt das ideenreiche Bibliotheksteam – ausser Königin Corona funkt dazwischen. Aber das war dieses Jahr nicht der Fall. Nach der lebendigen Erzählstunde war das Tischlein gedeckt mit Spezialitäten aus der ganzen Welt: Hummus aus dem Osten, Oliven aus dem Süden, Chokladbollar aus dem Norden und Wein aus der Schweiz.

PD


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