Retter bei Schnee und noch mehr Schnee

  12.11.2021 Sport, Gesellschaft, Tourismus, Saanenland, Wintersport, Porträt

Ueli Grundisch leitete 25 Jahre lang die SAC Rettungsstation Gstaad. Mit ihm geht ein senkrechter, ruhiger und bescheidener Mann.

BLANCA BURRI
Mit Ueli Grundisch in den Bergen unterwegs zu sein, ist wie ein Frühstücksbrunch bei der Grossmutter. Er verwöhnt die «Wandergspändli» mit Informationen über seltene Steinkräuter. Er fragt, ob man die Kreuzotter am Wegrand gesehen habe und legt eine Trinkpause ein, noch bevor man bemerkt, dass man Durst hat. Für die hier beschriebenen SAC-Wanderungen hat er ab sofort mehr Zeit, weil er das Amt des Rettungschefs der SAC Rettungsstation Gstaad an den Nagel hängt. Auf jeden Fall fast, denn der neugewählte Simon Bolton hat Ueli Grundisch gefragt, ob er im Team bleiben und ihn wenn nötig vertreten könne. Die Antwort hat er sich nicht überlegen müssen: «Natürlich habe ich zugesagt. Ich kann doch nicht einfach aufhören, nachdem ich so viel Herzblut reingesteckt habe!»

«Ich darf es fast nicht sagen …»
Wie sieht Herzblut-Engagement in einer Rettungsstation aus? Um das zu beantworten, muss man beim Anfang beginnen. Gewählt wurde Ueli Grundisch mit der Bemerkung des damaligen SAC-Präsidenten der Sektion Oldenhorn: «Als Hausmann hast du ja viel Zeit für die Aufgabe». Ueli Grundisch war Bergführer, Hausmann und Vater zweier Kinder, seine Frau Silvia unterrichtet bis heute an der Rütti-Schule in Gstaad. Grundisch trieb aber anderes als zu viel Zeit an: das Interesse an der Bergrettung. Wenn er an die Anfangsphase denkt, schluckt er leer: «Ich darf fast nicht sagen, wie stiefmütterlich die Rettung damals organisiert war.» Ein kleines Materiallager gab es in Form eines Schrankes bei der Feuerwehr an der Spittelgasse in Gstaad. Grundisch lacht und erzählt: «Da waren Seile, eine Friedliwinde, eine Bahre, aber …» Er macht eine Pause. «Dort lagerte zwar gutes Material, aber es war in die Jahre gekommen!» Er fragt sich, wie damit eine grössere, aufwendigere Bergung hätte durchgeführt werden können.

Die Alarmierung erfolgte damals wie bei der Feuerwehr per Telefonalarm. Und wieder lacht er, als er weitererzählt: «Das System SMT bekam bald den Übernamen ‹SauMässig Teuer›», denn es habe 60 Franken pro Retter und Jahr gekostet. «Das war für die Gemeinde viel Geld.» Und hier machen wir eine Klammer auf: Das gesamte Rettungsmaterial war damals vom Schweizer Alpen-Club organisiert und finanziert worden. Da die Rettung grundsätzlich Gemeindeaufgabe ist, nahm Ueli Grundisch mit den Gemeinden Saanen, Lauenen und Gsteig Kontakt auf. Bald wurden Vereinbarungen getroffen und die laufenden Kosten nicht mehr nur über die Vereinskasse, sondern auch über Steuergelder abgerechnet. Neu wird das Material seit 2005 von der Alpinen Rettung Schweiz ARS organisiert und angeboten. Das neue Rettungsmagazin befindet sich in der Allmistrasse in Saanen. Es ist ein gut ausgebautes Lokal, das zusammen mit dem des Samaritervereins genutzt wird.

«Ufpasse und lose»
Aber was macht ein Rettungschef eigentlich? «Ufpasse u lose, Tag u Nacht», beantwortet Ueli Grundisch die Frage. Und? «Ständig am Pager ‹hange›.» Wir lachen – dann wird Ueli Grundisch ernst: «Also, man ist verantwortlich dafür, dass die Rettungsstation läuft, dass genug Retter da sind und dass diese ausgebildet sind.» Dies nahm er sich zu Herzen. Er bemerkte, dass die Rettungsqualität mit nur drei bis vier Übungen pro Jahr nicht auf das gewünschtes Niveau gehoben werden konnt, denn mit den vielen, neuen Trendsportarten haben sich auch die Rettungstaktiken geändert. Nach dem Lawinenwinter 1999 passte der Bergführer deshalb seine Taktik an. Gemeinsam mit den Weggefährten Hansruedi Oehrli und Alfred Schopfer lud er künftig zu 12 bis 15 Übungen pro Jahr ein – und nur, wer deren sechs besucht, wird seither als Retter registriert.

Die Rettungsstation Gstaad trifft sich freitagabends Mitte Monat jeweils um 18.30 Uhr. Die Retter knüpfen blindlings Knoten. Sie vergraben Figuranten im Schnee und suchen sie anschliessend mit Sonden, Lawinenverschüttetensuchgeräten und mit Lawinenhunden. Die Retter fliegen an einem Seil hängend auf den Berg. Und sie simulieren mögliche Einsätze im Gelände.

Die SAC Rettungsstation Gstaad besteht aus 26 Rettern, aufgeteilt in drei Gruppen. Entgegen anderen Organisationen hat die Rettungsstation keine Nachwuchssorgen. Da Ueli Grundisch manchmal seinen Sohn Sandro an die Übungen mitgenommen hat, zuerst als Figurant und später als Jungretter, machte dieses Beispiel bald Schule. Die Jungen bekamen Freude an der Materie und sind heute teilweise selbst Retter. Vielleicht auch, wegen des gemütlichen Zusammensitzens nach der Übung: «Wir sind heute eine grosse Familie.»

Schwierigste Suche
Digitale Technologien kommen immer häufiger zum Einsatz – auch in der Rettung. Beispielsweise wird der Alarm statt auf den Pager bald aufs Handy gesendet. Diese Entwicklung beobachtet Grundisch mit gemischten Gefühlen. «Das Ganze ist noch nicht ausgereift», findet er. Zu oft gebe es Funklöcher. Die Handyakkus seien ebenfalls ein kritisches Element, weil sie sich in der Kälte unberechenbar schnell entladen könnten. Ein weiterer Grund für seine Ablehnung: «Es schliesst einige Retter aus, weil sie digital nicht fit genug sind!»

Aber die ganze Digitalisierung habe durchaus ihre positiven Seiten: Die Rettungsstation koordiniert die Einsätze bereits heute per Whatsapp-Gruppe, eine Erleichterung zum Telefonieren. Und in einem Fall konnten zwei von Schnee verschüttete Personen nur dank Handyortung zwar leblos, aber immerhin gefunden werden. Die Tourengänger waren nämlich ohne Lawinenverschüttetensuchgeräte unterwegs. Weil man als Indiz des Standortes einzig das abgestellte Auto gefunden hatte, war die Suche schwierig sowie lange erfolglos. Die Vermissten waren auf einer Route unterwegs, wo man keine Skitourengänger vermutet hätte. «Wir hatten sehr viel Glück, dass wir sie überhaupt gefunden haben und das im letzten Moment. Als wir die beiden Leichen bargen, stellten wir fest, dass ihr Handyakku fast leer war.» Grundisch möchte sich die Bilder nicht ausmalen, wenn die Verstorbenen erst mit der Schneeschmelze gefunden worden wären.

Grösste Suchaktion war in Lauenen
Rettungsmüsterchen hat Ueli Grundisch viele, akkurat sortiert in zwei Bundesordnern im Büro. Es liegt auf der Sonnenseite seines Chalets in der Gruben. Die grösste Rettungsaktion kribbelt immer noch ein wenig unter seiner Haut, obwohl sie 18 Jahre zurückliegt. Deshalb muss Grundisch die Details spicken: Am 26. April 2003 war ein junger Mann britischer Staatsangehörigkeit mit seinen Eltern zu Fuss unterwegs gewesen. Nach der Enge in Lauenen kehrten die Eltern nach Gstaad um. Der 18-Jährige aber wollte noch auf den «kleinen» Hügel und zeigte aufs Mutthore (2312 m ü.M.). Sie verabredeten sich beim Bahnhof Gstaad. Doch der Teenager tauchte nicht auf.

«Es gibt keinen Wanderweg aufs Mutthore, deshalb war die Suchaktion extrem schwierig», schaut Grundisch zurück. Weil der Verschollene ortsunkundig war, versuchten die Retter und die Polizei, in seine Haut zu schlüpfen. Sie gingen davon aus, dass der Vermisste einen direkten Weg aufs Mutthore gewählt hatte. Erst suchten sie im Regen zwischen Lauenen und Lauenensee. Aber weder die Bergrettung noch der Helikopter oder die Suchhunde fanden ihn. Wäre das Wetter besser gewesen, wäre sogar ein Hubschrauber Typ FLIR mit Wärmebildkamera zum Einsatz gekommen.

Nach der erfolglosen Suche im Dauerregen dehnte man den Perimeter auf die Länge Louwene und Jaas-Chäle aus. Ein weiteres Team stieg zum Rieji unterhalb des Mutthores auf. «Wegen der Dunkelheit, Witterungsverhältnisse und Lawinengefahr wurde die Suche für die Retter immer gefährlicher.» Sie musste aus Sicherheitsgründen abgebrochen werden. Eine endlose Nacht wartete auf den erfahrenen Rettungschef. «Zu Hause stellte ich mir vor, der Jugendliche sitze frierend unter einer Tanne.»

Am nächsten Tag begannen sie früh mit der Suche. Schliesslich fand ein Hundesuchtrupp den Teenager. Er war mit einem Schneerutsch hinuntergespült worden und hatte sich dabei tödlich verletzt. «Der Tod dieses jungen Menschen hat uns alle durchgeschüttelt.»

Ein Kopfschütteln und ein Schmunzeln
Ob eine Bergung Ueli Grundisch berührt oder nicht, kommt auf die Situation an. Als ein junger Mann im vergangenen Winter beim Wasserngrat wegen eines Lawinenniedergangs starb, hatte der 69-Jährige eher ein Grollen im Bauch als Mitgefühl. Dies aus nachvollziehbaren Gründen: «Auf allen Kanälen wurde vor der grossen Lawinengefahr gewarnt. Trotzdem und trotz Warnung des eigenen Vaters fuhr er mit zwei Freunden in den viel zu gefährlichen Graben. Eine Lawine löste sich und begrub einen der drei, einen 21-Jährigen, unter sich.» Grundisch ist noch immer wütend, weil die jungen Männer damit nicht nur sich selbst, sondern auch die Retter in Gefahr gebracht hatten. «Die Rettung am Seil des schwebenden Helikopters war sehr gefährlich. Sie musste wegen eines weiteren Lawinenniedergangs sogar unterbrochen werden.»

Glücklicherweise hat der scheidende Rettungschef nicht nur tragische Müsterchen auf Lager. Eines, in Kurzform erzählt, regt durchaus zum Schmunzeln an: Im vergangenen Mai, der Nebel wechselte sich mit Wolken und Sonne ab, löste ein Paar einen Alarm aus. Der Mann und die Frau befanden sich auf der Traverse zwischen Lauenenhorn und Gifer. In kurzen Hosen und leichten Wanderschuhen rutschten sie auf dem Schnee, der auf dieser Höhe noch lag, immer wieder ab. Sie hatten Mühe, den Bergweg zu erkennen. Die Kälte setzte ihnen zu. Grundisch telefonierte mit dem verirrten Paar. «Wir wollen den Helikopter!», bekam er zu hören. Aber eben: Der Helikopter konnte wegen der schlechten Sicht nicht fliegen und deshalb nahm die Rettung einen anderen Verlauf. Anhand eines Handyfotos war der Standort klar, Grundisch lotste die beiden den Bergweg hinauf zum Steinmandli, wo sich der Weg verzweigt und entweder auf den Giferspitz oder eben hinab Richtung Berzgum und Turbach führt. Als sie beim Giferhüttli ankamen, riefen sie Grundisch wie versprochen wieder an. Der Retter bot ihnen an, sie auf der nahen Berzgumm mit dem Auto zu holen. «Nein, nein!», bekam er zur Antwort. «Jetzt haben wir wieder warm und wandern nach Hause!» Am nächsten Tag erhielt der Berglotse einen spontanen Dankesbesuch. «Das hat mich sehr gefreut! Und übrigens konnte das Lotsen vom Bürostuhl aus mit Feldstecher abgewickelt werden.»

Jetzt sind 25 Jahre «am Pagerhängen» vorbei. «Es war zwar eine lange, aber eine schöne Zeit. Ich habe sie genossen und manchmal habe ich mich genervt. Aber es war eine gute Zeit.» Da bleibt nur eine Frage offen: «Wird es beim SAC wirklich mehr Genusstouren mit Ueli Grundisch geben?» Die einzig wahre Antwort lautet: «Wir werden sehen.»


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