Traumhafte und traurige Maturathemen

  26.11.2021 Gstaad

«Kann ein Traumdoktor eine OP stressfrei gestalten?» «Weshalb wurde meine Familie ausgelöscht?» Die neun Gym-4-Schüler/innen des Gymnasiums Interlaken Abteilung Gstaad präsentierten am vergangenen Montag ihre Maturaarbeiten und beantworteten obenstehende Fragen.

BLANCA BURRI
Vorträge halten Gymnasiasten fast wöchentlich, da kommen bei vier Gymerjahren wohl mehr als 50 Präsentationen zusammen. Vor der Klasse stehen, auf die Körperhaltung achten und mit fester Stimme das Gelernte weitergeben wird also zum Alltag. Und doch besteht ein Unterschied zur Präsentation der Maturaarbeit vor Publikum und Experten. Da können die Beine zittern. Auch ein flaues Gefühl in der Magengegend kann sich bemerkbar machen. Sollte das geschehen sein, hat man das den 17- und 18-jährigen Jugendlichen, die ihre Präsentationen hielten, am vergangenen Montag nicht angemerkt.

«Weshalb wurde meine Familie ausgelöscht?»
Die Lauenerin Amelia Westemeier führte die Zuhörer mit dem ersten Satz mitten ins Geschehen des Zweiten Weltkriegs: «Stellen Sie sich vor, es ist der Zweite Weltkrieg und der Bombenalarm warnt Sie zum unzähligsten Mal vor Tod und Zerstörung.» Das ist ihrem Grossvater Manfred Westemeier passiert. Er ist 1941, also mitten im Krieg, in Soest in Nordrhein-Westfalen geboren. Am 5. Dezember 1944, Manfred war Dreijährig, dröhnten die Sirenen schon wieder. Seine Mutter suchte für ihn und seine ältere Schwester einige Dinge zusammen und rannte mit ihnen zum nahen Bunker. Doch die Türe war verschlossen, weil er bereits voll war. Also hasteten sie zurück in ihr Wohnhaus und stiegen in den hauseigenen Keller hinab. Die Bomben der Alliierten gingen genau über diesem Haus nieder und machten alles dem Boden gleich. Von den 20 Schutzsuchenden überlebten bloss ein älterer Mann und Manfred Westemeier. Auch den Vater, der an der Front war, sah er nie mehr. Nach dieser Tragödie wuchs er bei Verwandten auf.

In einen grösseren Zusammenhang bringen
Die Maturaarbeit erfolgte nach der Oral-history-Methode. In ihrer Präsentation gelang es Amelia Westemeier, die persönlichen Erlebnisse ihres Grossvaters in einen grösseren Zusammenhang zu stellen. Sie erklärte die Strategie der Alliierten: Die Hauptstadt Berlin und das Ruhrgebiet als Industriegebiet waren Hauptziele der Bombenangriffe. Soest liegt an der Grenze des Ruhrgebietes. Dort wurden für den Krieg wichtige Batterien und leistungsstarke Motoren hergestellt. Zudem war es ein Zugknotenpunkt und deshalb für die Logistik der Nationalsozialisten zentral. Die Alliierten versuchten erst, die Industrie im Ruhrgebiet ohne zivile Opfer zu zerstören. Der Smog verhinderte aber den genauen Bombenabwurf. Nur fünf Prozent trafen ihr Ziel. Deshalb gingen die Alliierten später zu Flächenbombardements über. Am besagten 5. Dezember starben alleine in Soest 220 Menschen. Dank der anti-nationalsozialistischen Haltung der Pflegeeltern verspüre Manfred Westemeier trotz des grossen Verlustes keine Verbitterung, sagte die Gym-4-Schülerin. Dass sie ein so trauriges und persönliches Thema für die Maturaarbeit gewählt, in einen grösseren Zusammenhang gestellt und souverän vorgetragen hat, ist bewundernswert. Im Publikum sass ihr 80-jähriger Grossvater, der in Lauenen wohnt. Die Fragen aus dem Publikum rundeten die 30-minütige Präsentation ab.

«Kann ein Traumdoktor eine OP stressfrei gestalten?»
Diese Frage stellte sich India Winterberger. Ihre Mutter arbeitet am Kantonsspital Luzern. An einem Zukunftstag lernte die Maturandin dort vor einigen Jahren den «Traumdoktor» kennen. Ihr machte das Konzept Eindruck: Der Traumdoktor ist eine Person, die eine künstlerische Grundbildung hat und von der Stiftung Theodora zum Traumdoktor weitergebildet wird. Hauptsächlich Kinder werden von ihm durch eine Operation begleitet. Das beginnt beim Spitaleintritt und endet, wenn das Kind entlassen wird.

Nicht selten sagt der als Clown verkleidete Traumdoktor zu Beginn: «Heute bist du ein Glückspilz: Du hast ein ferngesteuertes Bett. Hast du das zu Hause auch?» Welches Kind würde auf diese Frage nicht neugierig reagieren und sich auf diese Person in lustigen Kleidern einlassen? Der Traumdoktor fragt auch, was das Kind während der OP träumen möchte. Diesen Traum zeichnet er für kleinere Kinder auf eine Karte, die sie in den OP mitnehmen dürfen. Bei der Einnahme des Beruhigungsmittels prosten er und die Eltern dem Kind mit Sirup zu und dann begleitet er das Kind hinter die magische Tür ins magische Land mit den blauen Schlümpfen in Tauchmasken.

Wirkung erwiesen
India Winterberger stammt aus Meiringen und wohnt wegen dem Skisport bei einer Gastfamilie in Saanenmöser. Sie befragte in ihrer Maturaarbeit 70 Kinder über die Wirkung des Traumdoktors. Davon wurden 45 Kinder vom Traumdoktor begleitet, 25 nicht. In ihren Studien belegte sie seine positive Wirkung. Die Kinder, die vom Traumdoktor begleitet wurden, klagten weniger über Schmerzen und sie sprachen öfter über die OP als jene ohne Traumdoktorbegleitung.

Wenn die Kinder von der OP erzählten, redeten sie hauptsächlich über ihren Traum und den Traumdoktor. «Dadurch treten die OP und die Schmerzen in den Hintergrund», schlussfolgert die Maturandin. Sie resümierte, dass die Kinder dem Traumdoktor vertrauen. Da der Traumdoktor wiederum dem Spital vertraue, übertrage sich das auf die Kinder. Bei den Fragen aus dem Publikum und von den Experten stellte India Winterberger weitere Zusammenhänge her. Sie vermutet, dass das Risiko von Traumata deutlich abnimmt, wenn sie über die OP sprechen. Dadurch sähen sie weiteren OPs gelassen entgegen.

Individuell und einzigartig
Fünf der neun Jugendlichen, die ihre Maturaarbeit präsentierten, stammen aus dem Saanenland. Rektor Christoph Däpp ist begeistert: «Von Tourismus über Geschichte, Medizin, Sport und Sprache bis hin zu gesellschaftlichen Themen – ich bin jedes Jahr über die Vielfalt der Arbeiten erfreut.»


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