«Du bisch wichtig!»

  03.12.2021 Saanenland, Gesellschaft, Saanenland, Familie

Jedes vierte Mädchen und jeder zehnte Junge in der Schweiz ist im Lauf seiner Kindheit von sexueller Ausbeutung betroffen. Mit «Mein Körper gehört mir» bietet Kinderschutz Schweiz Schülerinnen und Schülern eine interaktive Ausstellung zur Prävention von sexueller Gewalt gegen Kinder. 226 Schulkinder aus dem Saanenland haben diesen Ausstellungsparcours besucht.

KEREM S. MAURER
«Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel.» Dieses Johann Wolfgang von Goethe zugesprochene Zitat wird von den Autorinnen und Autoren der Optimus-Studie aufgegriffen. Grundlage dafür seien liebevolle Beziehungen, die von Zuneigung, Vertrauen, Respekt und Verlässlichkeit geprägt sind zu Eltern und anderen Bezugspersonen, fügen die Autoren der Studie hinzu und bedauern im selben Atemzug, dass viele Kinder dies nicht in ausreichendem Mass erlebten. Statt sich frei entfalten zu können, erführen diese Kinder Gewalt in verschiedensten Formen.

Die Optimus-Studie wurde 2007 als international ausgerichtetes, auf zehn Jahre angelegtes wissenschaftliches Grossprojekt mit dem Ziel lanciert, repräsentative Daten über die Verbreitung und Formen von Gewalt an Kindern und Jugendlichen zu erheben. So sollen Lücken in den Kinderschutzsystemen erkannt und wirkungsvolle Präventionsstrategien erarbeitet werden. Das geht auch die Schweiz etwas an. Denn im Rahmen der UN-Kinderrechtskonvention ist die Schweiz verpflichtet, alles zu tun, um Kinder zu schützen. Die UNO soll bereits mehrfach auf diesbezügliche Mängel hingewiesen und die Schweiz dafür kritisiert haben, heisst es in der Broschüre zur Optimus-Studie Schweiz vom Juni 2018.

Alarmierende Zahlen
Laut dieser Studie ist jedes vierte Mädchen und jeder zehnte Junge in der Schweiz im Lauf seiner Kindheit von sexueller Ausbeutung betroffen. Am häufigsten trifft es Kinder im Alter zwischen sieben und zwölf Jahren. Im untersuchten Zeitraum von September bis November 2016 haben die befragten Organisationen insgesamt 7651 neue Fälle erfasst. Hochgerechnet auf alle Kinderschutzorganisationen in der Schweiz sind dies 10’035 Fälle in drei Monaten. Pro Jahr gelangen somit rund drei Prozent aller in der Schweiz lebenden Kinder wegen Kindeswohlgefährdung an eine darauf spezialisierte Organisation. Das entspricht 30’000 bis 50’000 Kinder – und dies sind nur diejenigen, die neu dazukommen und auch nur jene, die gemeldet werden. Die Studie spricht dabei von der Spitze des Eisbergs.

Sechs Stationen für ein stärkeres Selbstbewusstsein
Mit dem Ziel, das Selbstbewusstsein und die Abwehrstrategien der Schulkinder zu stärken, hat die Organisation Kinderschutz Schweiz die interaktive Ausstellung «Mein Körper gehört mir» als Adaption der Ausstellung «Echt Klasse!», die laut Kinderschutz Schweiz in Deutschland erfolgreich erprobt worden war, entwickelt. Die Ausstellung besteht aus sechs Mitmach-Stationen, an denen die Kinder spielerisch und in altersgerechter Form Wichtiges über das Thema sexuelle Gewalt erfahren. Die Stationen behandeln folgende Themen: 1. Mein Körper gehört mir; 2. Ich vertraue meinem Gefühl; 3. Ich kenne gute, schlechte und komische Berührungen; 4. Ich darf Nein sein sagen; 5. Ich unterscheide zwischen guten und schlechten Geheimnissen; 6. Ich bin schlau, ich hole mir Hilfe.

Während der letzten Woche war dieser Ausstellungsparcours im Jugendzentrum Oeyetli in Saanen aufgebaut. In Gruppen von fünf bis sechs Kindern, begleitet von ausgebildeten Animatorinnen und Animatoren der offenen Kinder- und Jugendarbeit und der Schulsozialarbeit Saanen, haben ihn 226 Unterstufenschülerinnen und -schüler aus dem ganzen Saanenland durchlaufen. Im Vorfeld des Parcours fanden Infoanlässe zur Sensibilisierung der Lehrpersonen und Eltern statt.

Dürfen Eltern ihre Kinder schlagen?
Am Mittwochvormittag war die 1. bis 3. Klasse aus Schönried von Marie-Nelli Köpff an der Reihe. Die Lehrerin teilte die 19 anwesenden Schülerinnen und Schüler in drei Gruppen ein. «Ich habe darauf geachtet, dass in etwa gleich starke Charaktere zusammen waren, damit nicht die zarteren Geschöpfe unter die Räder kommen», erklärt die Lehrerin. Laut Lara Pichler, Jugendarbeiterin bei der Kinder- und Jugendfachstelle Saanen, die das Projekt mitbetreut, wurden auch Einteilungen nach Geschlecht in reine Mädchenund Jungengruppen gemacht. Sie erklärt: «Für die Einteilung war es eher wichtig, dass die Altersunterschiede innerhalb der Gruppen nicht zu gross waren.» Die Kinder waren mit Eifer bei der Sache und liessen sich auf die Themen ein. Manche erlebten eine grosse Überraschung, als sie in eine Schatzkiste schauen durften, von der es hiess, es sei das «Wertvollste auf der ganzen Welt» drin. Gespannt öffnete nacheinander jedes Kind die Truhe, um hineinzublicken. Darin waren zum Erstaunen vieler weder Goldstücke noch Edelsteine, sondern ein Spiegel: Jedes Kind war «das Wertvollste». Die Reaktionen der Schülerinnen und Schüler darauf waren sehr unterschiedlich. An einem anderen Posten fragte die Animatorin – so werden die durch den Parcours führenden Sozialarbeiterinnen in dieser Funktion bezeichnet –, ob Eltern ihre Kinder schlagen dürften. Nein, riefen die einen – Ja, die anderen.

Königlicher Augenblick
Eindrücklich war das Ende des einstündigen Parcours. Jedes Kind durfte – wenn es wollte – auf einen goldenen Thron sitzen. Auf dem Weg dahin, sagte die Sozialarbeiterin jedem Kind eindringlich: «Du bisch wichtig!» Dann setzte es sich auf den Thron und alle Umstehenden jubelten ihm zu, applaudierten und liessen es hochleben. Die Gesichtsausdrücke, welche die Kinder auf dem Thron annahmen, waren ein Foto wert. Das dachten sich auch die Sozialarbeiterinnen und fotografierten jedes mit einer Sofortbildkamera, damit es das Foto gleich mitnehmen konnte. Sollte eines der Kinder später einmal traurig sein, kann es sich das Foto ansehen und sich an die Emotionen seines königlichen Augenblicks erinnern. Dazu bekam jede Schülerin und jeder Schüler eine Karte mit der Nummer des Kindersorgentelefons. «Auf der Nummer 147 ist immer jemand da, der dir zuhört, wenn du reden willst», versicherte die Animatorin. Schlechte Geheimnisse sollte man nicht für sich behalten, sondern man darf sie weitererzählen. Auch das haben die Kinder während des Parcours gelernt.

In der Regelmässigkeit liegt die Kraft
Geplant sei, dass dieser Parcours regelmässig alle drei Jahre im Saanenland vorbeikomme, sagt Evelyne Moser von der Schulsozialarbeit Saanen. Die Idee dahinter ist, dass so jedes Kind, das im Saanenland zur Schule geht, einmal während seiner Schulzeit diesen Parcours durchlaufen kann. Gemäss Lara Pichler will man auch einen Parcours für Teenager ins Saanenland holen. Bereits die Tatsache, dass gewisse Themen unter den Kindern angesprochen würde, helfe den Mädchen und Jungen, darüber zu reden. Und im besten Fall hält es die einen oder anderen Erwachsenen davon ab, ein Kind auszubeuten, wenn sie wissen, dass die Kinder ein Bewusstsein dafür entwickeln, was gute und was schlechte Berührungen sind oder wenn Kinder wissen, dass sie nicht jedes Erwachsenengeheimnis für sich behalten müssen. Doch was tun die Fachkräfte, wenn sie während des Parcours bei einem Kind Hinweise auf eine Gefährdung des Kindeswohls feststellen? Obschon es nicht das erklärte Ziel des Parcours sei, Kindeswohlgefährdungen aufzudecken, seien sie von Berufes wegen natürlich verpflichtet, möglichen Vorkommnissen nachzugehen. Dafür gebe es Leitfäden und Vorgehensweisen, an die sie sich halten können, sagt Evelyne Moser.

Gestärkte Kinder
Sowohl die Lehrpersonen wie auch die Eltern hätten während der ganzen Woche positive Rückmeldungen abgegeben, bilanziert Lara Pichler und ergänzt: «Laut einigen Eltern haben sich Kinder beim Sorgentelefon gemeldet, um zu sehen, ob da auch wirklich jemand abnimmt und wie das so ist.» Auch seien die Kinder gestärkt aus dem Parcours herausgekommen, was deutlich an ihren Haltungen, Ausdrücken und Äusserungen erkennbar gewesen sei. Auch Brigitte Klenk von der Schulsozialarbeit Saanen teilte mit, sie habe in dieser Woche durchwegs tolle, interessierte Kinder erlebt. Sie hofft, dass diese die Leitgedanken des Parcours mit auf ihren Lebensweg nehmen.


FORMEN DER KINDESWOHLGEFÄHRDUNG

Vernachlässigung
Die grundlegenden physischen, emotionalen, medizinischen und erzieherischen Bedürfnisse des Kindes werden nicht erfüllt. Zu diesen Bedürfnissen gehören auch Schutz und Sicherheit entsprechend der Entwicklung des Kindes.

Psychische Misshandlung
Dem Kind wird vermittelt, dass es wertlos, fehlerhaft, ungeliebt, nicht gewollt, bedroht oder nur von Wert ist für die Erfüllung von Bedürfnissen anderer. Dies geschieht etwa durch Erniedrigung, Einschüchterung, Ausgrenzung oder Isolation.

Körperliche Misshandlung
Dazu zählen Handlungen wie Schlagen, Treten, Beissen, Stossen, Schütteln, Würgen oder Zerren, absichtliche Verbrennungen oder Verbrühungen.

Zeuge von Partnergewalt
Partnergewalt beinhaltet eine indirekte Form von Gewalt: Das Kind bekommt mit, wie Eltern oder Bezugspersonen im Haushalt gegeneinander körperliche oder physische Gewalt ausüben.

Sexueller Missbrauch
Jede sexuelle Handlung, die an oder von einem Kind entweder gegen dessen Willen vorgenommen wird oder der das Kind aufgrund seiner Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen kann, ist sexueller Missbrauch.

Quelle: Optimus Studie

 


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