«Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt»

  07.12.2021 Leserbriefe

15 Jahre nach dem Slogan «Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit» der französischen Revolution (1789) hat Friedrich Schiller im «Wilhelm Tell» (1804) die obige Redewendung gedichtet. 69 Jahre danach hat Lehrer Gabriel von Grünigen im Vortrag über die Armenfrage des Saanenlandes (1873) die damalige Situation beurteilt: «Schlechte Erziehung im Elternhaus, Genusssucht, Verweichlichung, Abneigung gegen das Erlernen von handwerklichen Berufen, mangelhafte Schulbildung, leichtfertiges Heiraten.» Gleichnishaft sagt er: «Das Leben der Gegenwart kommt mir vor wie eine Schiffahrt auf höchst stürmischer See. Viele vermögen nicht, den Gefahren zu trotzen und gehen unter, während die anderen, die mit ihrer Habe zu landen vermögen, nur desto reichlicheren Gewinn ernten.» (Aus der Festschrift «100 Jahre Sparund Leihkasse Saanen 1874–1974», Buchdruckerei Müller, Gstaad, 1975, Seite 9.)

Zitat aus der Festschrift auf Seite 9: «Zu Beginn der siebziger Jahre (1870, Anmerkung des Leserbriefschreibers) konnte das Amt Saanen den zweifelhaften Ruhm für sich in Anspruch nehmen, die grösste Zahl von Notarmen und Bedürftigen im Kanton zu unterstützen: auf 1000 Einwohner traf es 123 Arme. Die Amtsblätter aus jener trüben Zeit reden eine erschreckend deutliche Sprache: nicht selten gelangen an einem einzigen Freitag – dem Wochenmarkt – im Grossen Landhaus ein halbes Dutzend Heimwesen, Bergweiden oder Waldungen unter den Hammer. Die Forderungen, die aus den Konkursmassen befriedigt werden mussten, waren gelegentlich selbst für die damalige Zeit verschwindend gering. Wegen eines Gläubigeranspruchs von 142 Franken kam 1870 eine Familie um Haus und Hof. Es kosteten vergleichsweise damals 50 kg Kartoffeln Fr. 2.50, ein Handwerker verdiente pro Tag Fr. 2.50 bis 3.50, ein Schulmeister Fr. 1.60 bis Fr. 2.50, ein Tagelöhner um 80 Rappen.»

Zusammenzug aus der Festschrift auf Seite 11: «Zum Zwecke, die arme und arbeitende Klasse namentlich zu Ersparnissen anzuregen, wurde am 1. Oktober 1874 von Präsident Johann Jakob Schwenter (Schulmeister) im Hause von Kassier Carl Reichenbach (Leutnant) in Gstaad die Spar- und Leihkasse Saanen gegründet, die heutige Saanen Bank.»

147 Jahre später steht das Saanenland an einem ganz anderen Punkt. Mittlerweile ist die Klientel der zum Verkauf angebotenen Heimwesen, Bergweiden oder Waldungen illustrer und internationaler. Hut ab vor jenen, die noch die Ehre besitzen, wie Familie Welten, auf ein Kaufangebot gar nicht erst einzutreten.

Als wir 1999 als vierköpfige Familie in ein altes, gemietetes, noch originales Saanenhaus hierher zogen – mittlerweile wurde es für einen grösseren Geldbetrag an einen Ausländer verkauft und stilgerecht renoviert – besuchten noch rund 900 Volksschüler die elf Schulhäuser der Gemeinde Saanen. Ich unterrichtete damals im Zimmer, in dem man heute in Saanenmöser Sozialhilfe beantragen kann, 27 Schüler der 5. bis 6. Klasse. Die ARA war für 18’000 Einwohnergleichwerte (EW) ausgebaut. 22 Jahre später kann Johann Jakob Schwenter neben unseren zwei Älteren noch unsere zwei Jüngeren als Urururenkel und Nachfahren aufzählen, einen sogar als Lernender in der Saanen Bank. Es gibt nur noch 504 Volksschüler in sieben Schulhäusern. Mein Wirken als Reallehrer an der Oberstufe im Turbach ist wegen Kindermangel beendet worden und ich habe Johann Jakob Schwenters Nach-nach-nach…-Folge im Ebnit angetreten. Die ARA soll 2022 modernisiert werden (2005 bereits auf 30’000 EW), und die Rosey-Schule plant einen Lehrcampus für 550 Jugendliche mitten in Gstaad.

Nein, Lukas Welten, es sind nicht diejenigen mit dem längeren Atem, die ihre Projekte durchbringen, sondern nur die, die einfach mehr Geld haben, viel mehr Geld und Erfahrung mit Juristen. Ist das demokratische System in Bezug auf die Einsprachemöglichkeiten wirklich für alle gleich, wie Patricia Matti zur Antwort gibt? (AvS, Seite 5)

Wer befürchten muss, nach mehrjährigem Prozessieren eventuell den Kürzeren zu ziehen, von der Gegenpartei locker bis und mit Bundesgericht vorangetrieben, muss bei einem Verlieren auch die aufgelaufenen Anwaltskosten der Gegenpartei berappen. Mit einigen Rappen ist das sicher nicht getan, sondern allenfalls mit Millionen (Rappen). Das ist letztlich der Grund des Rückzugs der Familie und des Ehepaars Welten.

Welche Spezialisten empfiehlt Patricia Matti bei den heute scheinbar immer komplexer werdenden Bauten? Juristen und andere Isten? Oder meint sie etwa solche zum Ausmisten?

Abschliessend hoffe ich doch sehr, dass nicht wir es sind, die aufgrund der amtlichen Neubewertung (ANB 2020, Artikel mit Hans Schär, Seite 3) selber zu Kanonenfutter werden, sondern dass dies Michael Herrmann nur in Bezug auf die Argumente der Einsprechenden gemeint hat (AvS, Seite 5). Ich ermutige alle, ihren Stolz und ihre Ehre nicht geldliebend preiszugeben. Mir gibt die Entwicklung des Saanenlandes mehr als zu denken.
JOHANNES NYDEGGER-REUTELER, GRUBEN


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