«Wien – Beethoven delayed»

  21.12.2021 Gstaad, Kultur

Während im Saanenland derzeit Winterfreuden im Vordergrund stehen, wagen die Veranstalter des Gstaad Menuhin Festival & Academy einen Ausblick in den musikalischen Sommer. Und nicht nur das: Gestern startete der Vorverkauf für die Konzerte im Festivalzelt. Das Programm hält einmal mehr wunderbare Musikerlebnisse für alle Generationen bereit. Christoph Müller, Artistic Director, verrät im Interview, welches Konzert keinesfalls verpasst werden darf, wie es mit den Academys läuft, wie er an Klaus Maria Brandauer herangekommen ist und wie das Festival zu seinem Titel kam.

JENNY STERCHI

Christoph Müller, beim Durchblättern des Programmheftes für die kommende Ausgabe des Gstaad Menuhin Festival & Academy fällt die Mischung aus etablierten, weltbekannten Künstlern, aussergewöhnlichen Ensembles und – man möchte sagen – Stammgästen auf den Bühnen des Festivals auf. Wer von all denen darf Ihrer Ansicht nach keinesfalls verpasst werden?
Mir ist immer wichtig, dass Neugierde vorhanden ist, um Neues kennenzulernen. Daher versuche ich jeweils, diese gesunde Mischung von Altbekanntem und Neuem zu finden. Herausragende Debuts sind sicher René Jacobs mit dem Freiburger Barockorchester und dem RIAS Kammerchor mit Beethovens «Missa Solemnis». Ein epochales Werk und eine Weltklassebesetzung, die zum ersten Mal in der Schweiz in dieser Kombination gastiert. Oder der Barockstar Christophe Rousset, welcher mit seinem Pariser Orchester «Les Talens Lyriques» Mozarts Zauberflöte dirigieren wird, um nur zwei Beispiele von Debuts zu Beginn und zum Ende des Festivals zu nennen.

Der Titel «Wien – Beethoven delayed», auf den wir gleich noch genauer zu sprechen kommen, verspricht, dass Wien den Schwerpunkt des Festivals ausmacht. Wie haben Sie das umgesetzt?
Unser Städtezyklus ist damit nach drei Editionen abgeschlossen. Für mich war immer klar, dass Wien in diesem Zyklus dabei sein muss, denn die Wiener Klassik mit ihrem Dreigestirn Haydn-Mozart-Beethoven bildet noch heute die Substanz der Musikwelt. Ich wollte viele Facetten anklingen lassen, von den grossen Meisterwerken bis zu Beiträgen der sogenannten Zweiten Wiener Schule, mit Musik des frühen 20. Jahrhunderts über die Wienerwalzer-Seligkeit hin zu Entertainment-Elementen wie die «Federspiel»-Brass-Band oder die Breakdance-Party «Breakin’ Mozart». Dabei spielen auch österreichische Künstler eine Rolle wie unser Artist in Residence, der Klarinettist Andreas Ottensamer.

Mit «Wien – Beethoven delayed» wird eine Verspätung angedeutet, die sich sehr wahrscheinlich auf die von der Pandemie voll getroffenen Festivalausgabe 2020 bezieht. Damals sollte der 250. Geburtstag von Beethoven in den Fokus des Festivals gestellt werden. Warum fand das Wort «delayed» (verspätet) Platz im Festivaltitel?
Weil wir mit einer Verspätung von zwei Jahren Beethovens runden Geburtstag feiern … wobei, wie Sir András Schiff zu betonen pflegt, einer wie Beethoven nicht Jubiläen braucht, um gespielt zu werden. Sein Werk ist Kulturgut! Spannend ist die These verschiedener Beethoven-Forscher, wonach Beethoven im Jahr 1772 geboren und sein Geburtsjahr ein Missverständnis sei. Ob dies Fake News sind oder ob etwas Wahres dran ist, sei dahingestellt. Jedenfalls bietet sich uns mit diesem möglichen Umstand ein weiterer Grund, seinen runden Geburtstag erst recht zu feiern, und vielleicht sind wir ja tatsächlich das einzige Festival weltweit, das seinen richtigen 250. Geburtstag feiert (lacht).

Künstler und Musiker zu verpflichten, ist in jedem Fall ein gewisses Wagnis. In Zeiten wie diesen kommt eine weitere grosse und einflussreiche Unbekannte dazu, nämlich die Durchführbarkeit angesichts geltender Verordnungen und Schutzmassnahmen. Wie gehen Sie damit um?
Wir haben Schutzmassnahmen bereits im Festivaljahr 2021 und zuvor bei den vereinzelten Pop-up-Konzerten im 2020 erprobt. Und das Wichtigste ist: Sie funktionieren. Auch wenn die Pandemie im Sommer noch nicht vorüber sein sollte, sind wir gut vorbereitet und werden ein Festival durchführen können. Das ist eine wichtige Botschaft!

Für eine musikalisch begleitete Lesung konnten Sie Klaus Maria Brandauer engagieren. Ein Künstler von seinem Format, immerhin für den Oscar nominiert für seine Rolle in «Jenseits von Afrika», hat sicher die Wahl, welches Engagement er annimmt. Warum hat er sich für Gstaad entschieden?
Er hat bereits in zwei anderen Projekten bei uns gastiert und das waren immer denkwürdige Erlebnisse. Der uns nahestehende Pianist Sebastian Knauer realisiert mit ihm seit vielen Jahren spannende Musik- und Literaturprojekte und so lag es nahe, dass ich ihn bat, für uns ein Beethoven-Projekt zusammenzustellen. Es wird unter anderem um das «Heiligenstädter Testament» gehen, welches Beethoven bereits im Jahr 1802 verfasste, unter dem Eindruck stehend, dass sein Leben zu Ende gehe. Er lebte, wie wir wissen, bis 1827 und schuf gerade in den letzten Lebensjahren seine grössten Werke.

Künstler:innen wie Sol Gabetta, Andreas Ottensamer und Patricia Kopatchinskaja gehören eigentlich schon fest auf die Festivalagenda. Was macht die Verbindung dieser immer wiederkehrenden Künstler zum Gstaad Menuhin Festival & Academy aus?
Es ist Teil meiner Programmierungsstrategie, dass Künstler über eine längere Periode aufgebaut werden sollen. Wenn dieser Aufbau auch vom Publikum beantwortet wird und Interesse sowie Offenheit für die Programme der angesprochenen Musikerinnen und Musiker vorhanden sind, und wenn man sich auch nicht wiederholt, sondern inhaltlich immer neu erfindet, empfinde ich es als Win-win-Situation für beide Seiten, diese Kontinuität zu haben. Zudem ist es für das Festival von grossem Wert, wenn sich Weltstars wie Patricia Kopatchinskaja oder Sol Gabetta mit dem Festival identifizieren und hier Fussabrucke zu hinterlassen bereit sind.

Das Gstaad Menuhin Festival & Academy richtet sich an alle Generationen. Das zeigte sich in der Lancierung des Musikvermittlungsprojekts «Discovery» vor fünf Jahren. Wird an dieser Plattform für die Jüngsten festgehalten?
Ja, und diese für uns so wertvoll gewordenen Projekte werden auch laufend erweitert und inhaltlich geöffnet. Es ist eine unserer Missionen, die Inhalte zu vermitteln, auf welche Art auch immer. Wir haben wunderbare Projektverantwortliche, welche diese Projekte so kreativ und liebevoll zusammenstellen. In dieser Hinsicht streben wir unserem Festivalgründer nach, welcher nicht nur Musik machen wollte, sondern immer die Absicht hatte, humanistische Botschaften an alle Menschen zu vermitteln, ob Jung oder Alt. Mit «Discovery» haben wir ein Format erfunden, welches Kindern, Jugendlichen und Familien die Tür zur Musik und zum Festival öffnet, niederschwellig und zum Greifen nah.

Abschliessend noch eine Frage zu den Academies. In den letzten Jahren konnte sich dieser Teil des Festivals zunehmend im Programm etablieren. Wo sehen Sie das weitere Entwicklungspotenzial der Academies?
Die Academies, die wir haben, werden weiter konsolidiert und gefestigt. Namentlich die Gstaad Conducting Academy ist ja erst sieben Jahre jung und hat noch viel Potenzial, vor allem soll sie weltweit noch bekannter werden. Anderseits haben wir bereits sieben feste Orchesterpartner gewonnen, die die Gewinnerinnen und Gewinner des Neeme Järvi Prize jeweils einladen. Vorerst halten wir an der Anzahl von fünf Academies fest und bemühen uns, diese inhaltlich laufend zu entwickeln. So haben wir im letzten Sommer einen weiteren Schritt in die Digitalisierung unternommen. Mit der Gstaad Digital Conducting Academy geben wir Einblicke in die musikalische und pädagogische Welt des Dirigierens, nachzuschauen auf www.gstaaddigitalfestival.ch. Die Publikumsveranstaltungen der Gstaad Academy, wie die «L’Heure Bleue – Concert for All», welche gratis sind, wurden vom Publikum auch immer besser angenommen, was uns sehr freut.


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