Integration soll nicht auf dem Altar der Inklusion geopfert werden

  14.12.2021 Saanenland, Gesellschaft, Schule

Die integrative Förderung in den Schulen des Saanenlandes klappt gut. Doch jetzt kommt mit der «Inklusion» der neuste Entwicklungsschritt in der Heil- und Sonderpädagogik. Was bedeutet das und ist neben der Schule die Gesellschaft überhaupt reif für diesen Schritt?

KEREM S. MAURER
Früher durften Kinder mit verstärkten sonderpädagogischen Massnahmen die Regelschule nicht besuchen, sondern wurden ausgeschlossen. «Exklusion» hiess diese erste Stufe in der Entwicklung der Heil- und Sonderpädagogik in unserem Land. Die zweite Stufe war die «Separation». Dies bedeutete, dass betroffene Kinder von den Regelschulkindern getrennt und unter ihresgleichen in Sonderschulen oder als Regelschüler:innen in Kleinklassen unterrichtet wurden. Darauf empfahl die «Integration», dass Kinder mit Förderbedarf wieder in den Regelunterricht zurückgeführt werden sollen. Und schliesslich taucht als modernster Schritt der heilund sonderpädagogischen Entwicklung der Begriff «Inklusion» auf. Wegweisend für die inklusive Ausrichtung ist die UNO-Behindertenrechtskonvention (UNO-BRK), welche die Schweiz 2014 ratifizierte und sich damit verpflichtete, ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen zu etablieren. Ab dem 1. Januar 2022 heissen Sonderschulen neu «besondere Volksschulen» und sind gemeinsam mit den Regelschulen unter dem Titel «Volksschulangebot» der BKD (Bildungs- und Kulturdirektion) unterstellt.

Was bedeutet Inklusion?
Diese Frage beantwortet Verena Marti, Schulleitung IBEM (Integration und besondere Massnahmen) Region Saanenland, so: «Inklusion bedeutet in meiner Wahrnehmung, dass alle Menschen unabhängig von ihrer gesellschaftlichen Stellung, ihrer körperlichen, geistigen und intellektuellen Voraussetzungen, ihrer persönlichen Präferenzen oder ihrer kulturellen oder religiösen Ausrichtung an einer Gesellschaft uneingeschränkt teilhaben können.»

Schulisch gesehen sollen folglich alle Kinder ungeachtet ihrer Fähigkeiten und Bedürfnisse die Regelschule (Volksschule) besuchen, also inkludiert werden. Inklusion bedeutet die Überwindung von Benachteiligungen und Beeinträchtigungen, fordert die vollzeitige wohnortsnahe Regelschulung aller Schüler:innen und duldet keine Sonderschulen mehr. Die Basis dazu bildet der Gleichstellungsartikel 8 in der Bundesverfassung und die daraus folgenden Artikel 17 und 18 des kantonalen Volksschulgesetzes (VSG) mit den entsprechenden Verordnungen (siehe Kasten). Wie wird Artikel 17 im Saanenland umgesetzt?

(K)ein Thema im Saanenland?
Wer einen Blick in das «Konzept Umsetzung Art. 17 VSG in den Gemeinden Saanen, Lauenen und Gsteig» wirft, erkennt, dass darin zwar von «integrativ», nicht aber von «inklusiv» die Rede ist. Das Konzept beschreibt Förderungsmöglichkeiten für Kinder mit besonderen Bedürfnissen im Volksschulbereich. Betroffene Kinder besuchen den Regelunterricht mit Ausnahme jener, die aufgrund ihrer persönlichen Voraussetzungen im Rahmen der Regelklassen ungenügende Förderung erhalten oder ihre Kompetenzen besser in einem Schonraum entfalten können. Auch diese Kinder bleiben Regelschüler:innen und werden in der Klasse für besondere Förderung (KBF) nach dem offiziellen Lehrplan unterrichtet. Laut Marti besuchen aktuell zwölf Kinder von der dritten bis zur neunten Klasse aus unseren drei Gemeinden die KBF. Marti räumt ein, dass die Inklusion bislang im Saanenland zwar noch kein Thema ist, aber: «Die Integration von betroffenen Kindern ist im Saanenland immer wieder erfolgreich praktiziert worden.»

Wohl der Kinder steht im Vordergrund
«So wie wir integrative Förderung im Obersimmental und Saanenland seit Jahren pflegen, kommen wir der sogenannten Inklusion schon sehr nahe», erklärt Gabrièle Alice Weyermann, Schulleiterin der Heilpädagogischen Schule Gstaad (HPS). Die HPS beim Rüttischulhaus in Gstaad ist in das Areal der Regelschule integriert. Diverse Aktivitäten könnten HPS-Schüler:innen mit Regelschulkindern gemeinsam unternehmen, ebenso werden Infrastrukturen wie Pausenplatz, Werkräume etc. zusammen genutzt. Kinder mit besonderen Fördermassnahmen werden wenn immer möglich in der Regelschule unterrichtet. Nur geht das nicht in jedem Fall. Deshalb ist auch Weyermann skeptisch, wenn es um eine vollumfängliche Inklusion geht. «Wir behalten immer das Wohl des Kindes im Auge, man kann nicht alle in denselben Topf werfen», sagt sie. Mache man das, liefen einige Kinder Gefahr, unterzugehen, weil man ihren Bedürfnissen nicht gerecht werden könne. Sie ist überzeugt, dass Integration, so wie sie in der Region Obersimmental-Saanenland praktiziert wird, in der Berner Schullandschaft nicht nur einzigartig, sondern auch sehr erfolgreich ist. «Kein Kind verlässt hier die Schule, ohne eine Anschlusslösung zu haben», betont sie und lobt im selben Atemzug das hiesige Gewerbe, das oft bereit ist, auch «schwierigen» Jugendlichen eine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt zu geben. Und diese gut funktionierende Integration sollte nicht erzwungenermassen auf dem Altar der Inklusion geopfert werden.

Schulsystem stösst an seine Grenzen
Laut Verena Marti stösst ein Schulsystem mit dem erklärten Ziel, ausnahmslos allen Schüler:innen die Integration in die Regelklassen zu ermöglichen, schnell an seine Grenzen. Sie fragt: Woher nehmen Regellehrpersonen ohne heilpädagogische Ausbildung Fachkenntnisse für die Förderung von Kindern mit Downsyndrom oder solchen mit schwerwiegendem Autismus? Und wie sollen Regellehrpersonen allen Ansprüchen gerecht werden, wenn sie die Förderung von Hochbegabten genauso gewährleisten müssen wie die von Durchschnittsschülern und jenen mit Dyskalkulie, Legasthenie oder einer Aufmerksamkeitsstörung? Die Schulleiterin IBEM Region Saanenland warnt davor, dass der Versuch der Regellehrpersonen, diesem vielschichtigen Erwartungsdruck gerecht zu werden, über kurz oder lang zu Desillusionierung und Burn-outs führen könnte – selbst wenn den Regelschulen bei der integrativen Förderung heilpädagogische Fachkräfte zur Seite gestellt werden. «Mit dem aktuellen System wird es noch eine Weile dauern, bis wir von einer Inklusion – der wirklichen und sinnvollen Integration aller Kinder in der Regelschule – sprechen können», sagt Verena Marti.

In der Pflicht ist nicht allein die Schule
Für Gabrièle Alice Weyermann ist für eine vollumfängliche Inklusion nicht nur die Schule zuständig. Wichtige Voraussetzung dafür sei auch eine Gesellschaft, die dazu bereit ist. Kinder hätten grundsätzlich weniger Probleme mit körperlich oder geistig beeinträchtigten Mitmenschen. Doch oft ändere sich diese Haltung mit zunehmendem Alter. Noch heute hätten viele Erwachsene Mühe und Vorurteile im Umgang mit geistig oder körperlich beeinträchtigten Menschen. Weyermann ist mit Marti einverstanden, wenn diese sagt: «Die Schule allein kann dieses Problem nicht lösen. Inklusion funktioniert erst, wenn die ganze Gesellschaft dazu breit ist.» Doch dafür braucht es Toleranz und den Willen, Andersartige und auch Andersdenkende als gleichwertige Teile der Gesellschaft zu akzeptieren. Und nicht zuletzt die Corona-Krise hat allzu deutlich aufgezeigt, dass in dieser Hinsicht unsere Gesellschaft noch viel Luft nach oben hat.

Widersprüchliche Studienergebnisse
Gegen die Idee der Inklusion regt sich auch andernorts Widerstand. Laut einem Factsheet der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik (HfH) werden in verschiedenen Kantonen Stimmen laut, welche die in Regelklassen integrierte heilpädagogische Förderung wieder abbauen und stattdessen vermehrt wieder Kleinklassen einrichten wollen. Zurück auf Feld eins sozusagen. Doch dies ist in den Augen der HfH falsch. Denn aktuelle Forschungen zeigten, dass für den kurzfristigen Lernerfolg die Qualität von Unterricht und Förderung wichtiger sei, als die Schulform. Zwar könnten Kleinklassen zu einer Entlastung des Regelsystems führen, langfristig bringe jedoch die integrierte Förderung den Kindern und Jugendlichen mit Lern- und Verhaltensproblemen mehr Erfolg im Leben. Und dies nütze letztlich der ganzen Gesellschaft.

Doch diese Schlussfolgerung ist laut Verena Marti wissenschaftlich umstritten. Sie verweist auf zahlreiche Studien, die zu einem anderen Schluss kommen. Längerfristig zeige sich nämlich ein intakter Selbstwert bei Menschen, die angemessene Förderung erhielten als bedeutender für das Individuum und auch für die Gesellschaft. Denn so könnten längerfristig Kosten in der Sozialhilfe abgefedert werden. Laut Marti spielt dies gerade in ländlichen Regionen, wo oft der Regelschule die umfassende Förderung zufällt, eine bedeutende Rolle, weil externe fachkompetente Unterstützungsangebote fehlen.


VOLKSSCHULGESETZ ( VSG) DES KANTONS BERN

Artikel 17
1.Schülerinnen und Schülern, deren schulische Ausbildung durch Störungen und Behinderungen oder durch Probleme bei der sprachlichen und kulturellen Integration erschwert wird, sowie Schülerinnen und Schülern mit ausserordentlichen Begabungen soll in der Regel der Besuch der ordentlichen Bildungsgänge ermöglicht werden.
2. Die Bildungsziele werden soweit nötig durch besondere Massnahmen wie Spezialunterricht, besondere Förderung oder Schulung in besonderen Klassen, die grundsätzlich in Schulen mit Regelklassen zu integrieren sind, angestrebt.
Artikel 18
1.Kinder, die nicht in Regelklassen oder besonderen Klassen geschult werden können, müssen in Sonderschulen oder Heimen geschult werden oder erhalten auf andere Weise Pflege, Erziehung, Förderung und angemessene Ausbildung.
2. Das regionale Schulinspektorat bewilligt eine anderweitige Schulung oder Förderung nach Anhören der Eltern, der Lehrerschaft und der Schulleitung sowie auf Grund eines begründeten Antrages einer kantonalen Erziehungsberatungsstelle, gegebenenfalls des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes oder des schulärztlichen Dienstes.
3. Die Schulkommission wacht darüber, dass die Eltern des Kindes innert nützlicher Frist das Nötige anordnen. Sind diese säumig, benachrichtigt sie die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde.

PD


GLEICHSTELLUNGSARTIKEL 8 IN DER BUNDESVERFASSUNG

In der Schweiz ist die Gleichstellung der Geschlechter seit dem Jahr 1981 in der Bundesverfassung verankert. Der entsprechende Artikel 8 lautet: «Mann und Frau sind gleichberechtigt. Das Gesetz sorgt für ihre rechtliche und tatsächliche Gleichstellung, vor allem in Familie, Ausbildung und Arbeit. Mann und Frau haben Anspruch auf gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit.

PD

 


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