«Für den Start brauchte ich eine gewisse Anonymität und Freiheit»

  04.01.2022 Schweiz, Interview, Gesellschaft, Saanenland, Schule

Debora Bach (22) aus dem Turbach und Pascal Maurer (24) aus Schönried haben im vergangenen Sommer das Lehrdiplom für die Vorschulstufe und Primarstufe erhalten. Sie kehren trotz Mangel an Lehrpersonen (vorerst) nicht ins Saanenland zurück. Im Interview nennen sie die Gründe.

BLANCA BURRI

Debora Bach, was war Ihre Motivation, Lehrerin zu werden?
Für mich war schon früh klar, dass ich mit Kindern arbeiten möchte. Ich habe immer Kinder gehütet. Ich bin gerne mit ihnen zusammen und sie sind gerne mit mir unterwegs. Eigentlich liegt es auch ein wenig in den Genen. Meine Grossmutter war bereits Lehrerin und meine Mutter Kindergartenlehrerin.

War es bei Ihnen auch so klar, Pascal Maurer?
Das kann man so nicht sagen. Ich lernte zuerst Hochbauzeichner, das hat mir gut gefallen. Als mich der Zivildienst in eine Heilpädagogische Schule führte, war ich von der Arbeit mit den Kindern angetan. Deshalb entschied ich mich für die Zweitausbildung als Lehrer.

Pascal Maurer, Sie unterrichten in Hindelbank eine 3. und 4. Klasse. Weshalb sind Sie nicht ins Saanenland zurückgekehrt?
Ich bin bewusst im Mittelland geblieben, wo ich unbelastet starten konnte, weil mich dort weder Eltern noch Schüler kennen. Ich finde es auch entlastend, nicht mit Lehrpersonen zusammenzuarbeiten, zu denen ich bereits in den Unterricht ging. Mit diesem Entscheid kann ich eigene Erfahrungen machen und mein Ding durchziehen, ohne dass ich von Leuten, die mich kennen, beobachtet werde.

Frau Bach, weshalb haben Sie Neuenegg und nicht das Saanenland gewählt?
Für den Start brauchte ich eine gewisse Anonymität und Freiheit. Im Saanenland würde ich beim Einkaufen unweigerlich auf Eltern und Schüler treffen, das möchte ich nicht. Auf jeden Fall nicht am Anfang.

Können Sie sich vorstellen, später im Saanenland zu unterrichten?
Debora Bach (DB)
: Das kann ich mir vorstellen, aber ich weiss nicht, wann das sein wird.

Wenn Sie im Mittelland unterrichten, bauen Sie dort bestimmt auch ein persönliches Umfeld auf. Dann wird es vielleicht schwieriger zurückzukehren.
DB
: Mein enger Freundeskreis bewegt sich hauptsächlich im Saanenland. Es zieht mich also immer wieder zurück, auch an den Wochenenden, wenn ich im Skiclub helfe.
Pascal Maurer (PM): Bei mir ist das ein wenig anders. Meine Freundin kommt nicht aus dem Saanenland. Ich mag die Jahreszeiten im Mittelland. Vor allem den Frühling und den Sommer finde ich in der Nähe von Bern sehr schön. Im Sommer schwimme ich gerne in der Aare. Das kulturelle Angebot in der Stadt ist vielfältig. Natürlich kehre ich auch gerne ins Saanenland zurück, vor allem, um Ski zu fahren. Aber dort arbeiten? Ich kann diese Frage nicht abschliessend beantworten.

Im Kanton Bern gibt es einen akuten Mangel an Lehrpersonen. Konnten Sie Ihre Stelle auswählen?
PM
: Das Angebot ist gross. Ich suchte zwar eine Stelle als Klassenlehrer, aber nur etwa ein 70-Prozent-Pensum, damit ich mich gut einarbeiten kann. Zudem war mir wichtig, dass es noch Parallelklassen gibt, damit ich mich mit den Lehrpersonen der gleichen Unterrichtsstufe austauschen kann. In Hindelbank habe ich all das gefunden.
DB: Ich habe bewusst nach einer 5. und 6. Klasse gesucht. Als ich eine Stelle in angenehmer Pendlerdistanz zu meiner Wohnung fand, war ich ganz glücklich. Das ersparte mir die Wohnungssuche und das «Zügeln». Mir passten auch die ausgeschriebenen Fächer gut. Als gewinnbringend betrachte ich die Struktur in einem grossen Schulhaus. Mit den Lehrpersonen derselben Stufe pflege ich einen regen Austausch. Manchmal setzen wir zusammen Prüfungen auf oder korrigieren sie gemeinsam.

Wie könnte man den Lehrerberuf attraktiver gestalten?
DB
: Zusammengefasst: Kleinere Klassen, mehr Lehrpersonen und grosszügige Platzverhältnisse. Das steht natürlich im Widerspruch zu den begrenzten Gemeinde- und Kantonsfinanzen, zu den hohen Pensionierungszahlen und Burnouts von Lehrpersonen und zu den gegebenen Räumlichkeiten in den Schulen. Es ist schwierig, aus dieser Spirale zu finden.

Werden Sie dem Lehrerberuf treu bleiben?
PM
: Da bin ich mir noch nicht so sicher. Ich möchte voraussichtlich dem Schulbereich treu bleiben, aber vielleicht später in den heilpädagogischen Bereich wechseln.

Jetzt sind Sie seit einem Semester in der Schulpraxis. Was ist die Hauptherausforderung?
PM
: Erstaunlicherweise ist es nicht der Unterricht an und für sich, sondern das Drumherum. Die Klassenorganisation, die Arbeit mit den Eltern, die Absprache mit den anderen Lehrpersonen und so weiter. Man muss gut planen und einteilen können, um sich darin nicht zu verlieren.
DB: Als Klassenlehrperson muss man die ganzen Fäden zusammenhalten. Das kann man in keinem Praktikum trainieren, deshalb finde ich diesen Teil meiner Arbeit auch am schwierigsten. Plötzlich muss man Verantwortung für mehr als 20 Schülerinnen und Schüler übernehmen und Entscheidungen treffen.

Was ist im Umgang mit den Kindern schwierig?
PM
: Das Quartal zwischen Herbstferien und Weihnachtsferien ist anstrengend. Die Tage werden kürzer und alle werden immer müder.
DB: Ich hätte nicht gedacht, wie detailliert man vorbereitet sein muss, damit der Unterricht wirklich gelingt. Zudem finde ich Streitereien unter den Kindern anstrengend. Das kann auch den Unterricht beeinflussen. Vor Weihnachten, wenn alle müde sind, kommt man mit dem Stoff nicht mehr wie geplant vorwärts.

Was gefällt Ihnen besonders gut?
PM
: Bei Schulbeginn ist man sich erst fremd. Ich war mir nicht bewusst, wie schnell man die neuen Schülerinnen und Schüler kennenlernt. Sie erzählen uns persönliche Dinge und plötzlich ist man eine wichtige Person in ihrem Leben. Diese Beziehung ist sehr schön. Es gibt noch etwas Zweites, das mir gefällt: Die Zeiten, die unterrichtsfrei sind, kann ich frei einteilen. Zwischendurch gehe ich dann unter der Woche Ski fahren, zum Beispiel wenn der Wetterbericht am Wochenende schlecht ist. Dafür bereite ich den Unterricht dann am Wochenende vor.
DB: Letzthin haben wir an einem Samstag einem Marktstand im Dorf betrieben und dabei Geld für einen wohltätigen Zweck gesammelt. Es war schön, die Schülerinnen und Schüler ausserhalb des Schulzimmers kennenzulernen. Obwohl dieser Anlass freiwillig war, kamen fast alle.


AKUTER LEHRPERSONENMANGEL

In der Schweiz herrscht schon seit Jahren akuter Lehrpersonenmangel. Im Kanton Bern ist die Lage besonders prekär, sodass seit einigen Jahren Studierende helfen, die Lücken zu schliessen. Der Lehrpersonenmangel ist unter anderem auf viele Pensionierungen der sogenannten Babyboomer-Generation zurückzuführen (bis 2029). Deswegen gibt es trotz steigender Ausbildungszahlen an den Pädagogischen Hochschulen zu wenig Bewerber:innen für die frei werdenden Stellen. Gleichzeitig nehmen die Schülerzahlen konstant zu. Die allgemeine Konjunktur hat ebenfalls Einfluss auf den Arbeitsmarkt. Bei guter Wirtschaftslage wandern Lehrpersonen eher in die Privatwirtschaft ab. Die Vermutung, dass aufgrund der wirtschaftlich angespannten Lage wegen der Pandemie wieder mehr ursprünglich ausgebildete Lehrpersonen in den Schuldienst wechseln würden, trat nicht ein. Ein weiterer Grund für die angespannte Lage könnte der Lohn sein. Er ist im Kanton Bern im Vergleich zu anderen Bachelor-Berufen eher niedrig, ebenfalls im Vergleich zu den Lehrerlöhnen in anderen Kantonen. Aus diesem Grund wurde eine Arbeitsgruppe der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) ins Leben gerufen, die das Problem auf nationaler Ebene angeht.
Quelle: Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz und Antwort des Regierungsrates auf den parlamentarischen Vorstoss Gnägi.


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