Die Akzeptanz des Fehlers ist der Schlüssel

  14.01.2022 Sport

Funkeln in den Augen, unbedingten Siegeswillen, Stolz und Dankbarkeit der Athleten – das alles möchte Fred Labaune, Cheftrainer des Regionalen Leistungszentrums (RLZ) Gstaad, bei den jungen Athletinnen und Athleten wecken und erleben. Seine Methoden sind ganzheitlich, sein Wissen ist immens.

JENNY STERCHI
Es schneit. Eigentlich genau seine Bedingungen, seine Zeit im Jahr. Statt auf der Piste unterwegs zu sein, bewegt sich Fred Labaune an Krücken durch seine Wohnung in Gsteig. Er, der Cheftrainer des RLZ Gstaad, verletzte sich im Frühling am Bein. Im Spätsommer diagnostizierte man dann noch einen Kreuzbandriss, der unmittelbar nach dem Sturz übersehen worden war. Die Verletzung wurde operativ behandelt und muss nun heilen. Doch Labaune hadert nicht. Lachend nimmt er am grossen Esstisch Platz, legt die Gehhilfen auf die Seite und beginnt, vom vergangenen Winter zu berichten.

Sagenhafte Bilanz einer Mini-Saison
Die Vorbereitung auf den Winter 2020/21 war schwierig. Die Rennen wurden immer wieder nach hinten verschoben, Schutzmassnahmen mussten mehrmals angepasst werden, geltende Verordnungen brachten die Kontinuität im Trainings- und Vorbereitungsrhythmus in Bedrängnis.

Doch Fred Labaune und seine Trainerkollegen im RLZ Gstaad, Alexandra Barth, Philippe Chevalier und Jan Perren, liessen sich nicht aus dem Konzept bringen. Sie gingen mit den Trainingsgruppen immer wieder auf den Schnee, suchten den Austausch mit fremden Teams, die am gleichen Ort trainierten. Sie waren an vielen Vergleichsrennen in der ganzen Schweiz dabei, um sich optimal auf die hoffentlich kommenden Rennen vorzubereiten. «Und dann, Ende Februar, war es endlich so weit und wir starteten in eine sehr, sehr kurze Rennsaison», erinnert sich Labaune. Mit unglaublichen Resultaten. «An den BOSV-Meisterschaften holten sich die Athleten des RLZ Gstaad neun von zwölf möglichen Siegen. Dazu die unglaubliche Bilanz mit unzähligen Podestplätzen in den interregionalen, regionalen und nationalen Vergleichen. Mit drei Siegen, darunter der Schweizermeistertitel Mädchen GS U16 und der Vize-Schweizermeistertitel Mädchen SL U16, sowie drei zweiten Rängen auf nationaler Ebene begeisterten die Athletinnen und Athleten uns und sich selber.»

Zwischenmenschlich
Doch das geschieht nicht von allein. Das ist das Ergebnis einer erarbeiteten Kombination aus sorgfältig ausgewählten technischen und konditionellen Trainingsmethoden, mentaler Hilfestellung und ganz viel Kommunikation. «Unser Trainerteam profitiert von der Neugierde und den Ideen der jeweils anderen», verrät Labaune. Und offensichtlich vom Mut, auch sehr jungen Trainern Verantwortung zu übertragen. «Jan Perren ist noch keine 18 Jahre alt», sagt Labaune und sprüht vor Begeisterung. «Er war selber Athlet im RLZ und hat erfahren, was beim Training mit einem passiert.» Perrens Inputs sind für uns Gold wert, denn er ist den Wahrnehmungen der jungen Leistungssportler am nächsten. Mit den Erfahrungen und dem Wissen der übrigen Trainer können sie ein Gesamtpaket vermitteln.

Und warum ist das Zusammenspiel zwischen Trainer und Athlet so wichtig? «Weil jede Spitzenathletin und jeder Spitzenathlet einen Trainer pro Saison braucht», erklärt Fred Labaune mit eindringlicher Stimme. «Und zwar immer die gleiche Person. Der Trainer wird zur Bezugs- und Vertrauensperson im vom Skifahren bestimmten Alltag. Es ist wichtig, dass der Athlet nicht zu viele verschiedene Trainer hat.» Diese Aussage lässt erahnen, wie das Verhältnis zwischen beiden beschaffen sein muss. «Das ist auf Weltcupniveau nicht anders», ergänzt Labaune: «Die Trainerperson bleibt während der ganzen Saison die gleiche». Er, dessen Netzwerk in jede Ebene des weltweiten Skisports reicht, beobachtet diese zunehmend bedeutende Symbiose zwischen Athlet und Trainer vermehrt und wagt die Vermutung, dass sich die Strukturen im Skirennsport dahingehend womöglich verändern werden.

Während diese Entwicklung im Spitzensport gerade anzulaufen scheint, hält Labaune den Trainer als Bezugspunkt im Nachwuchsbereich für entscheidend. «Es ist eine Tatsache, dass die Athletin und der Athlet mitunter drei Monate für das Umsetzen einer Korrektur benötigen», weiss Labaune, und deutet mit einer Handbewegung auf einen Stapel Fachliteratur. «Im Umkehrschluss heisst das, dass viele Inputs von verschiedenen Personen eher Bremswirkung haben und Unsicherheiten auslösen.»

Legendärer Innenskifehler
Sowohl bei der generellen als auch bei der individuellen Trainingsplanung orientiert sich der Gstaader Cheftrainer an ganzheitlichen Erkenntnissen. «Mit dem Wissen, dass das Wechselspiel zwischen koordinativen Fähigkeiten, technischen Fertigkeiten und physischen Eigenheiten einen wesentlichen Einfluss auf die Leistungsstärke hat, müssen wir arbeiten.» Und sofort bringt er ein eindrückliches Beispiel für diese Abhängigkeit: «Eine Athletin richtete den Blick nicht gleichmässig auf beide Seiten. Sie drehte also den Kopf nicht gleich weit. Daher fehlten ihr entscheidende Informationen für das optimale Auslösen des Schwungs, wie die Methode ActionTypes veranschaulicht». Mit dieser Methode arbeiten die Schweizer Nationalteams im Fussball und im Eishockey. Jeder, auch die Athletin selbst, sah das Defizit in der ungenügend verinnerlichten Technik. «Die entsprechende Kurve funktionierte einfach nicht wunschgemäss.» Aber ihr fehlte nicht etwa das technische Verständnis für den optimierten Schwung. «Vielmehr liessen die unzureichenden Informationen vom Auge keine optimierte Bewegung zu», schlussfolgert Labaune.

Der oft zitierte Innenskifehler ist eine Art Universalerklärung für ein Scheitern. «Natürlich ist die Innenskisituation nicht optimal, aber nicht jeder Athlet erzielt nach der Innenskikorrektur automatisch bessere Laufzeiten.» Und andersrum haben Athleten auch mit besagtem Innenskifehler Weltcuprennen gewonnen. «Und diese Tatsache anzunehmen und die eigene Linie zu verfolgen, egal ob korrekte Innenskibelastung oder nicht, ist matchentscheidend», stellt Labaune zweifelsfrei klar. Das erklärt die Philosophie des Trainerteams in Gstaad, die da lautet: «Du musst die Fehler im Rennen akzeptieren, um zu siegen.»

Slalomtraining in Echtzeit
Neben dem optimalen Schwung müssen die Nachwuchsrennfahrer das Gespür für Zeit entwickeln. Seit geraumer Zeit wird das Slalomtraining direkt in den Stangen und Toren und mit Zeitmessung durchgeführt. «Das Tempogefühl und Renngeschwindigkeit können sie nur so entwickeln», ist der Cheftrainer überzeugt. Schliesslich gehe es beim Skirennsport um Bestzeiten und nicht um Haltungsnoten. Die Korrekturen und Anpassungen sind bei dieser Methode sehr individuell und vielschichtig. Der Aufwand für den Trainer ist vergleichsweise hoch, denn alle 28 Athletinnen und Athleten, die derzeit im RLZ Gstaad trainieren, sind speziell und einzigartig. Im Fokus steht die Suche nach dem individuellen Optimum. «Um das Beispiel von vorhin nochmal aufzugreifen», präzisiert Labaune an dieser Stelle: «Nicht jeder wird einen besseren Schwung auslösen können, nur weil er seinen Kopf weiter nach rechts oder links dreht.»

Aber wenn er das Funkeln in den Augen und die Zufriedenheit im Gesicht der jungen Athletinnen und Athleten nach einem gelungenen Lauf sieht, weiss er, dass sie auf dem richtigen Weg sind. Andererseits entgeht es auch nicht seiner Aufmerksamkeit, wenn die Renngeschwindigkeit einem Schützling Angst macht.

Langfristiger Siegeswille
In der Zielvereinbarung, die jeweils zwischen dem RLZ und den Nachwuchsathlet:innen festgelegt wird, muss ein Siegeswille zu erkennen sein. «In die nächsthöhere Trainingsgruppe aufzusteigen, ist kein wirkliches Ziel. Ein Ziel ist ein Schweizermeistertitel, der Sieg eines Cups, wie Jugendcup oder dann Europacup, ein Weltmeistertitel oder der Olympiasieg», merkt Fred Labaune an. «Vielmehr sollten die jungen Fahrerinnen und Fahrer den unbedingten Willen verspüren, an jedem Rennen ganz vorne dabei zu sein.»

Wie sie dieses Ziel für sich finden und definieren, ist ganz unterschiedlich. Labaune streckt seine Hände nach dem Laptop am anderen Ende des Tisches aus. Aufgeklappt erscheint als Hintergrundbild Sue Piller. Zuvor war dort das Foto von Patrick von Siebenthal auf seiner Fahrt zum Schweizermeister im März 2017 zu sehen. Sein unbedingter Siegeswille und seine unermüdliche Arbeit an sich selbst wurden damit beschenkt. Für Labaune ein sicheres Zeichen, dass die Vorbereitung von Patrick von Siebenthal im RLZ die richtige war. Auch wenn von Siebenthal längst nicht mehr im RLZ trainiert – er ist jetzt im C-Kader von Swiss-Ski, kehrt er bis heute nach Rennerfolgen zu Fred Labaune zurück und sie freuen sich und besprechen es dann gemeinsam.

Der Antrieb für die RLZ-Athletin Sue Piller war es, Patrick von Siebenthal als Hintergrundbild auf Labaunes Laptop zu ersetzen und so definierte sie den Schweizermeistertitel als ihr Ziel. Sie wurde im vergangenen Frühling Schweizermeisterin U16 im Riesenslalom. Und prangt nun in Aktionspose auf dem Bildschirm von Fred Labaune.

Offen bleiben
In diesem skibegeisterten Haushalt lebt Fred Labaune neben seiner Partnerin Alexandra Barth, die nebenberuflich als Assistenztrainerin im RLZ Gstaad arbeitet. Ihre Tochter Sue Piller gehört ebenso dazu wie Bastian Teuscher. Er, ein skibegeisterter Knabe aus Zürich, gehört temporär auch zur Familie. Bei sich daheim hatte er keine Möglichkeit, sich im Skirennsport fördern zu lassen. «Ich habe ihn auf den Ski gesehen. Sein Talent war nicht zu übersehen», erinnert sich Labaune. «Und wenn wir die Möglichkeit haben, dass er diese Voraussetzungen im RLZ nutzen kann, dann soll es an den Rahmenbedingungen keineswegs scheitern.» Und so war die Unterbringung von Bastian im Hause Labaune-Barth ein klarer Fall. In dem Augenblick erscheint der junge Zürcher in der Küche und antwortet lachend auf die Frage, wie er sich hier fühle: «Sehr gut aufgehoben.»


WER IST FRED LABAUNE?

Fred Labaune ist heute Cheftrainer im RLZ Gstaad. Er unterstützte schon das Swiss-Ski-Europacupteam der Herren im Slalom und trainierte die Swiss-Ski-Slalomequipe der Damen im Weltcup. Auch bei den Herren der Swiss-Ski-Trainingsgruppe Interregion West übte er Trainertätigkeiten aus.

Neben dem Ski Alpin gehört seine Leidenschaft auch dem Fechten. In der Disziplin Säbel begleitete er die Olympiateilnehmer als Trainer 2000 nach Sydney. Ausserdem war er bei den Schweizer Fechtern als Nationaltrainer im Einsatz. Und auch in diesem Sport kümmerte er sich als Fachleiter Jugend und Sport um den Nachwuchs.

Fred Labaune hat seine Wurzeln im Wallis und in Frankreich. Heute ist er in Gsteig zu Hause. Wenn der Winter vorbei ist, geniesst er Touren auf der Harley Davidson und reist gern mit seiner Partnerin Alexandra Barth in der Welt herum. Auf den Schnee verzichten möchte er jedoch auch dann nicht. Er freut sich dann, mit den Athletinnen und Athleten auf dem Gletscher zu trainieren.

In seinem Leben folgt er der Philosophie «Anderen zuhören und helfen». So richtig auf die Nerven geht ihm die Einstellung, sich lieber nicht nach vorne zu bewegen und stattdessen in der Bequemlichkeit und in der Tradition zu verharren.

JENNY STERCHI

 


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