Voller Überzeugung und offen für vieles

  11.02.2022 Gstaad, Natur, Landwirtschaft, Porträt

Die Frage nach dem Verantwortungsbewusstsein kommender Generationen wird häufig bange gestellt. Lucien von Grünigen zeigt, dass es gut werden kann. Gerade 15 geworden, hält er den direkten Austausch zwischen den Menschen für essenziell. Daneben gehören für ihn Tiere immer mehr dazu.

JENNY STERCHI
«Ein Foto von mir im Stall wäre toll», schlägt mir Lucien von Grünigen am Telefon begeistert vor. Seine Begeisterung ist bemerkenswert. Lucien ist ein junger Gstaader, der auf einem landwirtschaftlichen Betrieb aufgewachsen ist, im OSZ Gstaad zur Schule geht, seine Lehrstelle als Hochbauzeichner vertraglich gesichert hat und ein echter Kommunikator ist. Seine Mutter, mit der ich für dieses Porträt den ersten Kontakt aufnahm, hatte die Kontaktfreude ihres Sohnes bereits angedeutet. Und sie hat nicht zu viel versprochen.

«Ich bin gern im Austausch und schätze es, wenn mein Gegenüber Interesse zeigt», sagt er und zeigt mir sein Daheim, nachdem ich die heimelige, charmante Stube und die herrlich grosse, gemütliche Küche bestaunt habe. In dieser bietet mir Lucien nun einen Platz an. Der Blick aus dem Küchenfenster fällt auf die Schulhäuser im Ebnit. «Ist das nicht doof, den ganzen Tag auf die Schule schauen zu müssen?», frage ich ihn herausfordernd. «Nein, das stört mich nicht», entgegnet er fröhlich und liefert sogleich Zusatzinformationen. «Ich habe dafür einen sehr kurzen Schulweg und kann mit gutem Gewissen sagen, dass ich nie zu spät gekommen bin.» Und da wird deutlich, dass Lucien ein junger Mensch ist, der Pünktlichkeit schätzt und einen gesunden Ehrgeiz in sich trägt. Zur Schule muss er nur noch bis zu den Sommerferien. Dann beendet er die neunte Klasse und wird in einem hiesigen Architekturbüro die Ausbildung zum Hochbauzeichner beginnen. «Die korrekte Bezeichnung ist mittlerweile Zeichner EFZ Fachrichtung Architektur», erklärt Lucien mir und wirkt dabei kein bisschen altklug. Er hat in vielen anderen Bereiche geschnuppert. War beim Zimmermann, hat beim Maurer mitgeholfen. Auch die Altenpflege und den Coiffeurberuf hat er sich angesehen. «Ich muss offen sein, wenn ich herausfinden will, was mich begeistert», sagt Lucien und beantwortet damit die Frage, die ich als Nächstes stellen wollte.

Vorgestern ist er 15 Jahre alt geworden. «Als ich noch klein war, hatte ich mit der Landwirtschaft nicht so viel am Hut», blickt er zurück, als wir auf seine zunehmende Leidenschaft für die Tierhaltung und den elterlichen Betrieb zu sprechen kommen. «Natürlich war ich zwischendurch auch mit im Stall, mochte es, die Tiere zu streicheln, aber ich habe es nicht gesucht», erinnert er sich. Mittlerweile hat sich das ziemlich verändert. Er liebt die Alpzeit. «Mit den Tieren ‹z Bärg› zu sein, ist etwas ganz Besonderes und unübertroffen. Du musst dich anpassen, erledigen, was zu erledigen ist, und bist einfach da.» Kaninchen hält er. «Über den Sommer auf der Alp hatte ich 30 Stück.» Seine Häsinnen hatten viele Jungtiere. Er hat sie gepflegt und gefüttert. Und dann?
«Verkauft und ein paar für uns behalten», sagt er mir und ich schaue ungläubig auf fünf verbliebene Langohren, die munter in geräumigen Buchten und in einem grosszügigen Aussengehege umherhüpfen. «Die konntest du einfach so abgeben?», frage ich. Lucien hat die Frage wohl erwartet: «Ja, natürlich. Wie soll ich hier 30 Kaninchen halten und warum? Ein paar Leute wollten einige als Haustiere. Die anderen habe ich zum Metzger gebracht und das Fleisch verkauft. Fleisch zu essen bedeutet für mich keineswegs, ein Tier nicht zu achten.» Für ihn wird der Kreislauf der Fleischproduktion so sichtbar. Und für mich auch, nachdem ich mich wieder gefasst habe. So viel Überzeugung und Selbstverständnis eines 15-Jährigen hatten mich kurz aus dem Konzept gebracht. Als wir für das Foto in den Stall gehen, gibt er den Kühen zu fressen. Und dann geht er zu jeder Einzelnen, streicht ihnen über den Kopf, kennt die Eigenheiten der einen und die Vorlieben der anderen. «Das hier ist eine ganz Liebe», sagt er und steht vor einem schokoladenbraunen Tier ganz vorn im Stall. Sie hat Lucien offensichtlich erwartet, schiebt ihren Kopf in seinen Händen hin und her.

Lucien hilft dem Vater im Stall, sofern es die Schule und das Turnen erlauben. «Turnen geht er auch noch», denke ich und als könnte er Gedanken lesen, präzisiert er sofort: «Ich war im Geräteturnen und mache es nach wie vor sehr gern, aber ich bin nicht wettkampforientiert. Ich turne, weil ich Spass daran habe und weil ich ein Element für mich können möchte, nicht, um mich darin mit anderen zu messen.» Da ist es wieder, dieses Selbstverständnis. Es ist aussergewöhnlich. Diese Fähigkeit, sich einzusortieren, sich einschätzen zu können, ist ihm gegeben und macht Spass – ihm und seinen Mitmenschen. «Respekt gegenüber Menschen, die älter sind als ich und über mehr Erfahrungen verfügen, ist für mich ein Grundsatz.» Das hält Lucien jedoch nicht davon ab, seine Unzufriedenheit gegenüber Eltern oder Lehrern zu kommunizieren, respektvoll und mit Inhalt. «Ich selbst mag es nicht besonders, wenn jemand versucht, mich mit Argumenten zu überzeugen, denen offensichtlich der Hintergrund fehlt.» Er vertritt seine Meinung, wenn er danach gefragt wird. «Ich bilde mir ziemlich schnell eine Meinung», und die Selbstkritik ist nicht zu überhören. Er weiss um die Risiken, sich zu positionieren. «Es kann daneben gehen, wenn ich eine Haltung zu einem Thema einnehme, ohne die Inhalte und Zusammenhänge zu kennen», und deutet damit seine Skepsis gegenüber den Social Media an. «Du kannst dort alles behaupten, egal ob es wahr ist oder nicht.» Für Lucien ein zu wenig konstruktives Modell der Kommunikation, jedenfalls was Meinungsbildung angeht. In der Schule hat er die Erfahrung schon gemacht, seine Meinung überdenken zu müssen, weil er Details einfach nicht kannte. Aber er, der den Austausch eben schätzt, hört sich schlüssige Argumente gern an, kann durchaus Kompromisse eingehen und seine Haltung überarbeiten. «Ich denke, wir werden uns zukünftig mehr positionieren müssen, um gesund und tatsächlich nachhaltig zu existieren. Und dafür müssen wir uns informieren, austauschen, anderen zuhören und Lösungen finden, statt Probleme zu suchen», sagt er voller Zuversicht und gibt den Kühen eine zweite Runde Futter. Seine Worte hallen in meinem Kopf nach, als ich zum Abschied winkend den Stall verlasse.

Wovon träumen die jungen Menschen im Saanenland und wie gestalten sie ihr Leben? Die Serie «Jung und ...?» gibt ihnen eine Stimme. Die Porträtierten wählen selbst, wer als Nächstes in diesem Format erscheint. Lucien von Grünigen würde sich über ein Porträt von Carla Walker freuen.


ZUR PERSON

Lucien von Grünigen ist gerade 15 Jahre alt geworden. Er ist in Gstaad neben einer grossen Schwester und zwei Brüdern aufgewachsen. Als kleines Kind kam er in den Stall, wenn er Lust dazu hatte. Heute haben Tiere und Landwirtschaft einen festen Platz in Luciens Alltag. Doch auch die Menschen, die ihn umgeben, sind sehr wichtig für ihn.


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