Tag fünf im Europakrieg

  01.03.2022 Gstaad, Interview, Gesellschaft, Politik, Volkswirtschaft, Schweiz

Am vergangenen Donnerstagmorgen begann das Unfassbare. Wladimir Putin griff die Ukraine breitflächig an. Was erst nach einem Blitzkrieg aussah, entwickelt sich zu einer humanitären Katastrophe. Direktbetroffene berichten.

BLANCA BURRI
Lange hat man nicht geglaubt, dass Putin nicht nur drohen, sondern auch Taten folgen lassen würde. Wie von der USA seit Langem vorausgesehen, griff Russland am vergangenen Donnerstagmorgen die Ukraine an, unter anderem wegen der diskutierten NATO-Osterweiterung. Die Angriffe scheinen von langer Hand geplant zu sein. In einem blitzkriegartigen Angriff wurden Hunderte militärische Einrichtungen in der Ukraine bombardiert. Von Osten und Norden fielen auch Bodentruppen ins Land ein. Die ukrainische Bevölkerung aber wehrt sich. Sie möchte das russische Regime nicht, sondern bekennt sich zur Demokratie und zu Europa.

Wir konnten mit Personen sprechen, die aus der Ukraine stammen, aber in Gstaad wohnen. Sie geben einen Einblick, wie es ihnen, den Familien und Freunden vor Ort geht.

Betroffene sind geschockt
Svitlana Van den Berg wohnt mit ihrem Partner Arthur Zingre in Gstaad und Andalusien, wurde aber im Süden der Ukraine geboren. Das Paar bietet im Interview (siehe Seite 3) Einblick ins Zeitgeschehen. K.S. kommt aus Kiew, lebt aber seit einiger Zeit in Gstaad, sie möchte anonym bleiben.

Beide Gesprächspartner sind bestürzt über die Ereignisse in ihrem Heimatland. Sie machen sich grosse Sorgen um ihre Eltern, Verwandten und Freunde. Sie stehen ständig im Austausch mit ihnen und finden in der Nacht keinen Schlaf mehr. In Kiew ist die Situation besonders dramatisch. Aus Angst vor Luftangriffen haben die Menschen ihre Wohnungen verlassen. Viele sind Richtung Westen geflüchtet, die meisten aber harren in Kellern und in Metrostationen aus. «Alte Menschen und Familien mit kleinen Kindern sind geblieben», erklärt K.S., auch ihre Eltern. Es sei ihnen nichts anderes geblieben, als Ausweispapiere, Wertsachen und ein paar Decken zu packen und in die Metrostation zu flüchten, die sich 600 Meter neben der Wohnung befindet. Dort habe man sich organisiert, man könne sich anhand von Wegweisern orientieren. Aber: «Es ist erschreckend, niemand ist sicher», sagt K.S. Sie macht sich nicht nur um ihre Eltern Sorgen, sondern auch um Freunde. Eine Freundin sei hochschwanger, wo sie ihr Kind zur Welt bringe, sei aber völlig ungewiss, da es im vorgesehenen Spital nicht mehr möglich sei. Überhaupt sei die medizinische Versorgung unsicher. Die Medikamentenabgabe etc. sei nicht mehr gesichert. Deshalb wurden Apotheken in den sozialen Medien trotz Ausgangssperre aufgerufen, wieder zu öffnen, damit lebenswichtige Medikamente wie Insulin bezogen werden können.

In sozialen Medien organisiert
Schwierig findet K.S. die Informationspolitik. «Wir wissen nicht, was Propaganda ist und was wirklich stimmt.» Die Russen versuchten Panik zu verbreiten, die Ukrainer alles, damit sich die Bevölkerung sicher fühle. Deshalb organisiert sich die Bevölkerung in den sozialen Medien wie Viber selbst. In Informationsgruppen werden aktuelle Augenzeugenvideos, Hilfeaufrufe und politische Aktualitäten gepostet. Die unübersichtliche Lage verängstige alle, zum Beispiel die immer wieder aufheulenden Sirenen und die Bombenangriffe, die man auch im Untergrund höre. In den frühen Morgenstunden seien sie besonders intensiv. Verunsicherung würden auch durch Gerüchte verbreitet. Man höre davon, dass Russland ein tschetschenisches Sonderkommando finanziere, das in Kiew schon lange am Werk sei. Diese seien als sehr gute und vor allem skrupellose Kämpfer bekannt. «Wir fürchten uns vor ihnen», sagt K.S. Was sie genau in Kiew machten, sei nicht bekannt, man höre von Kreuzen, die sie auf den Asphalt malten. Man vermute, sie dienten dazu, dass die Russen gezielter angreifen können.

Noch hat es Strom und Internet
K.S. ist sehr froh, dass das Internet im Moment in Kiew noch funktioniert, und zwar für alle. Die Telekommunikationsanbieter sorgten dafür, dass alle kommunizieren könnten. Auch jene mit offenen Rechnungen oder einer limitierten Datenmenge. Auch Elektrizität gebe es noch. Damit ist der Kontakt zur Aussenwelt noch immer möglich.

Da Gas- und Öllager zerstört werden, wird die Luft mit gesundheitsschädlichen Stoffen kontaminiert. «Ich mache mir nicht nur Sorgen, dass meine Familie durch Waffen sterben könnte, sondern auch durch die Auswirkung von ausströmendem Gas. Und was ist, wenn Russland die Atomraketen einsetzt?»

Für K.S. ist es schwierig zu ertragen, so weit weg von der Familie zu sein und nichts für sie tun zu können. Sie macht sich grosse Sorgen und kann seit Donnerstag auch nicht mehr schlafen. «Ich male mir ganz viel aus, aber ich versuche positiv zu bleiben und bete.»


«Wir Schweizer sind wirklich ein wenig naiv»

Svitlana Van den Berg kommt aus dem Süden der Ukraine, aus der Stadt Mohyliw-Podilskyj. Die Stadt mit 30’000 Einwohnern liegt am Grenzfluss Dnister, der die Länder Ukraine und Moldawien trennt. Svitlana Van den Berg wohnt seit 15 Jahren in der Schweiz. Erst in Luzern, seit acht Jahren in Gstaad. Sie und ihr Partner Arthur Zingre geben Einblick in die unfassbaren Geschehnisse in ihrer Heimat.

BLANCA BURRI

Svitlana Van den Berg, wie verbunden sind Sie noch mit der Ukraine?
Svitlana Van den Berg (SB):
Sehr. Meine Eltern leben dort, meine Verwandten, Bekannten und Freunde. Auch mein 30-jähriger Sohn wohnt normalerweise in der Ukraine, aber glücklicherweise war er zu Kriegsbeginn zufälligerweise bei uns zu Besuch. Ich besuche meine Familie in der Regel jeden August für ein paar Wochen.

Am vergangenen Donnerstag wurde die Ukraine von Russland angegriffen. Haben Sie mit dem Angriff der Russen gerechnet?
SB:
Nein! Wir sind wirklich sehr erschrocken.
Arthur Zingre (AZ): Putins Drohgebärden waren in den vergangenen Monaten immer wieder Gesprächsthema. Wir haben Svitlanas Eltern immer wieder beruhigt, dass Putin nicht angreifen würde und wenn doch, nicht im Westen. Wir haben nicht realisiert, dass er so grossflächig angreifen würde.
SB: Mein Sohn hat uns nicht geglaubt und immer gesagt, wir seien naiv. Alle haben den Westen um Hilfe gebeten: Präsident Wolodimir Selenski, Exprofiboxer und Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko. Der Bürgermeister hat im Westen sogar um Waffen gebettelt, damit sich die Ukrainer verteidigen können.
AZ: Die Europäer haben die Ukrainer einfach im Stich gelassen. Das ist schlimm. Wir im Westen, unsere Generation, wissen einfach nicht mehr, was Krieg ist. Wir Schweizer sind wirklich ein wenig naiv, für mich war der Krieg weit weg, aber das stimmt nicht. Nach Kiew sind es nur 1700 Kilometer, es liegt vor unserer Haustüre! Krieg ist wirklich brutal, es geht ans Lebendige. Corona ist nichts gegen Krieg!

Wie geht es Ihrer Familie?
AZ:
Wir haben gedacht, die Eltern seien in Sicherheit, weil sich Mohyliw-Podilskyj im Westen der Ukraine befindet und wir die Angriffe von Norden und Osten vermuteten. Aber wir wurden total überrascht. Ziele im ganzen Land wurden bombardiert.
SB: Wir haben grosse Angst, dass auch Mohyliw-Podilskyj angegriffen wird, weil es strategisch gut gelegen ist. Wir haben ein grosses Flusskraftwerk sowie die Brücke nach Moldawien.

Svitlana Van den Berg, eigentlich könnten Ihre Eltern ganz einfach über den Fluss flüchten.
SB:
Mein Vater ist pflegebedürftig, sie können nicht weg.
AZ: Da kommt noch etwas anderes hinzu. Auf der anderen Flussseite liegt zwar Moldawien, doch es ist schwach. Und: entlang der ukrainischen Grenze schlängelt sich Transnistrien, ein international nicht anerkanntes prorussisches Territorium. In den ersten Stunden konnten alle über die Brücke nach Moldawien flüchten, doch nun lassen sie die wehrpflichtigen Männer sowieso nicht mehr ausreisen. Die Flüchtlingsströme sind kilometerlang. Wegen Transnistrien ist die Gefahr eines Angriffs aus dem Süden auch so real, weil die Russen dort militärische Stützpunkte haben.

Wie kommen Sie zu neusten Informationen aus der Heimat?
AZ:
Artem, Svitlanas Sohn, hängt ständig am Telefon und informiert uns. Natürlich auch über alle gängigen Medien.

Wie geht es ihm?
SB:
Er ist am Boden zerstört.

Wie haben Ihre Eltern vom Krieg erfahren?
SB:
Am Donnerstagmorgen wollte meine Mutter einen Arzttermin im Spital abmachen und dort Medikamente holen. Ihr wurde gesagt, das sei nicht möglich. Meine Mutter verstand nicht weshalb, bis ihr gesagt wurde, dass der Krieg ausgebrochen sei. Das finde ich schlimm.

Wie war die Situation am Freitagmorgen?
SB:
Alle Regale in den Supermärkten waren am ersten Tag leer gefegt. Jetzt hat es sich etwas normalisiert. Das Benzin ist bereits rationalisiert.

Was werden die Leute aus Mohyliw-Podilskyj tun?
SB:
Viele haben die Möglichkeit, sich aufs Land zurückzuziehen, weil sie dort Freunde oder Verwandte haben. Die Männer werden in den Krieg ziehen.

Was erwarten Sie? Was werden die Ukrainer tun?
AZ:
Die Ukrainer haben in den vergangenen dreissig Jahren Demokratie gelebt, sie haben Sprachen gelernt, die westliche Lebensweise kennen- und schätzen gelernt. Niemand möchte das russische Regime. Die Ukrainer möchten zu Europa gehören, deshalb werden sie alles für den Sieg tun. Sie werden kämpfen. Der Bodenkampf wird unerbittlich und brutal, es wird viele Tote geben.
SB: Ich bin von Putin grenzenlos enttäuscht. Was er jetzt macht, ist unverständlich. Er zeigt eine neue, unberechenbare Seite.

Arthur Zingre, wie haben Sie die Ukrainer erlebt, als Sie das erste Mal ins Land gereist sind?
AZ:
Ich habe Jahrgang 1963, bin also mitten im Kalten Krieg aufgewachsen. In der Schule wurde uns eingetrichteret, alle Russen seien böse, hinter jeder Hecke lauere ein Russe mit bösen Absichten. Mit diesem grossen Vorurteil reiste ich also nach Mohyliw-Podilskyj und wurde total überrascht. Ich wurde herzlich empfangen. Die Ukrainer sind ein gastfreundliches und friedfertiges Volk.

Svitlana Van den Berg, welches Verhältnis pflegt Ihre Familie zu Russland?
Die Ukraine ist die kleine Schwester von Russland, ähnlich wie die Schweiz von Deutschland. Wir haben viele Verwandte in Russland und umgekehrt. Wir haben dieselbe Schrift, dieselbe Sprache und wir schauen dieselben TV-Sender.
AZ: Und das alles nur 1700 Kilometer von uns entfernt.


TRANSNISTRIEN

Transnistrien ist ein international nicht anerkanntes, ausschliesslich von Russland gestütztes De-facto-Territorium in Südosteuropa. Das hauptsächlich östlich des Flusses Dnister an der moldawisch-ukrainischen Grenze gelegene Gebiet ist integraler Bestandteil der Republik Moldau und wird von rund einer halben Million Menschen bewohnt.

Die Republik entstand zwischen 1990 und 1992 beim Zerfall der Sowjetunion. Sie verfügt unter anderem über eine eigene Regierung, Währung, Verwaltung und eigenes Militär. Bislang erkennt allerdings kein Staat und keine internationale Organisation das Gebiet als souveränen Staat an.

 





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