Vor 100 Jahren wurde in Gstaad eine neue Sportart lanciert

  18.02.2022 Gstaad

Vom 15. Februar bis 15. März 1922 veranstaltete der Aero Club der Schweiz in Gstaad einen internationalen Anfängerkurs im motorlosen Flug – verbunden mit einem Wettbewerb für die Schweizer Teilnehmer. Der damalige Verkehrs- und Hotelierverein Gstaad empfing die jungen Männer mit offenen Armen.

Die Mitglieder des Aero Clubs der Schweiz (AeCS) trafen sich am Sonntag, 12. März 1922 im Hotel Victoria in Gstaad zur ordentlichen Generalversammlung. Vorgängig fand vor Ort ein Anfängerkurs im motorlosen Flug statt. Dieser Kurs endete mit einem Wettbewerb, der von den angereisten AeCS-Mitgliedern verfolgt wurde. Das Ziel lautete: «Anstoss zur Einbürgerung eines neuen Sportes in unseren Gauen». Inspiriert war die Idee durch einen Blick nach Deutschland, wo auf der Wasserkuppe in der Rhön in Hessen bereits 1920 und 1921 zwei Segelflugwettbewerbe stattgefunden hatten.

Skisprungschanze Matten wurde zum Flugplatz
1921 wurden Gleitflugzeuge von einem überhöhten Platz aus gestartet. Je höher der Startplatz, desto länger der anschliessende Gleitflug. Bei einem Anfängerkurs war es nicht sinnvoll, sogleich mit Höhenflügen zu beginnen. Deshalb genügte ein hindernisfreies Gelände mit geringem Höhenunterschied. Von den insgesamt 137 Flügen, die während des Kurses und Wettbewerbs absolviert wurden, erfolgten 110 Starts von der Skisprungschanze Matten am Eggli. Die Schanze war 1916 gemeinsam vom Skiclub Gstaad und dem örtlichen Verkehrsverein erstellt worden. Die Baukosten betrugen 46’250 Schweizer Franken, wovon die Gemeinde etwa einen Viertel bezahlt hatte. Die Schanze wurde später mehrmals umgebaut. Von 1946 bis 1966 fand das jährliche Springen um den Montgomery-Cup statt, benannt nach Generalfeldmarschall Bernard Montgomery, der gerne zum Urlaub ins Saanenland kam. Ab 1967 gehörte Gstaad zur Schweizer Springertournee. Von 1980 bis 1990 wurden insgesamt sechs Wettbewerbe im Skisprung-Weltcup ausgetragen. 1992 musste die Schanze stillgelegt werden, weil sie nicht mehr den Sicherheitsanforderungen des Internationalen Skiverbandes (FIS) genügte.

Zurück ins Jahr 1922: Das Interesse des Verkehrs- und Hoteliervereins Gstaad an einem Anfängerkurs im motorlosen Flug war gross. Man hoffte, dass die neue Sportart auch in Zukunft Segelflugpiloten ins Saanenland locken würde. Was – allerdings um Jahrzehnte verzögert – tatsächlich geschah. Der Hotelierverein Gstaad war bereit, den Kursleiter und die Teilnehmer vom 15. Februar bis 15. März 1922 kostenlos unterzubringen und zu verpflegen.

21-jähriger Fluglehrer aus Nürnberg
Kurs und Wettbewerb mussten innerhalb von zweieinhalb Monaten auf die Beine gestellt werden. Diese Zeit erwies sich als zu knapp, um – wie beschlossen – in Deutschland zwei Gleiter zu erwerben, welche den Teilnehmern vermietet werden sollten. Es gelang aber, den 21-jährigen Willy Pelzner, stud. math., aus Nürnberg als Fluglehrer zu engagieren. Pelzner hatte 1921 den Rhönwettbewerb in der Kategorie «Gesamtflugzeit» gewonnen. Er beherrschte seinen selbst konstruierten und gebauten Hängegleiter virtuos. Bis zum Nennungsschluss Ende Januar 1922 hatten sich vier Teilnehmer mit eigenem Flugzeug angemeldet:
• Francis Chardon, Postbeamter, Bern, mit Hängegleiter-Doppeldecker
• Jakob Spalinger, Techniker, Dübendorf, mit zwei Sitzgleitern (Doppel- und Eindecker)
• Hugo Schmid, Dipl. Ing., Zürich, mit Hängegleiter-Eindecker
• der Thuner Gleit- und Segelflugverein mit Sitzgleiter-Eindecker; Pilot Albert Cuendet
Willy Pelzner erschien als einziger Teilnehmer rechtzeitig in Gstaad und demonstrierte ab dem 17. Februar 1922 seine Flugkünste.

Ein tollkühner Postbeamter wurde Sieger
Francis Chardon begann am 19. Februar 1922 mit der Montage seines Doppeldecker-Hängegleiters, der sich als zu schwer und somit fluguntauglich erwies. Mit Hilfe und nach Plänen von Pelzner baute er in aller Eile in allereinfachster Form einen neuen Hängegleiter und nahm sofort nach der Fertigstellung das Training auf.

Chardon absolvierte 61 von insgesamt 137 Flügen des Anlasses. Sein längster Flug von 32 Sekunden konnte nur Fluglehrer Willy Pelzner überbieten. In 51 Wettbewerbsflügen blieb Chardon insgesamt 617,9 Sekunden in der Luft, was eine Durchschnittsdauer von 12,1 Sekunden pro Flug ergibt. Ein Blick auf die Fotos zeigt, dass dem Berner Postbeamten Francis Chardon neben Fleiss und Geschick auch eine grosse Portion Tollkühnheit zugestanden werden muss. Francis Chardon wurde verdienter Sieger des Wettbewerbs.

Favorit schied aus
Jakob Spalinger hatte bereits 1918 ein grosses, antriebsloses Doppeldecker-Flugzeug gebaut und damit erste Flugversuche absolviert. Deshalb startete er als Favorit. Spalinger traf am 1. März 1922 in Gstaad ein und brachte seinen Doppeldecker sowie einen neuen unfertigen Sitzgleiter-Eindecker mit. Seit 1905 konnte man Gstaad mit der Bahn erreichen, was den Flugzeugtransport erheblich erleichterte. Doch offenbar waren beide Flugzeuge beim Transport beschädigt worden. In aller Eile reparierte Spalinger seine Gleiter – um beim Einfliegen zweimal Bruch zu machen. Damit schied der Favorit vorzeitig aus. Jakob Spalinger wurde später ein bekannter Segelflugkonstrukteur. In seinen Memoiren schrieb er, dass ihn die nächtelangen Diskussionen mit Willy Pelzner über die ungewöhnlich leichten Hängegleiter weiterbrachten. Gstaad war also nicht umsonst.

Der im Gleitflug schon etwas geübte Hugo Schmid stellte seinen Hängegleiter HS7 erst am 13. März 1922 fertig. «Die ersten Versuche führten zu Kleinholz», schrieb der Wettbewerbsleiter Robert Gsell kurz und knapp.

Profipilot wurde Zweiter
Albert Cuendet, gelernter Mechaniker – später Konditor in Buenos-Aires – war ab 1913 Fabrikflieger beim berühmten Flugzeugproduzenten Louis Blériot. Cuendet gehörte zu den ersten Piloten der Welt, die Loopings flogen. Von 1918 bis 1933 arbeitete er als Einflieger bei der schweizerischen Konstruktionsstätte in Thun. Deshalb konnte Cuendet 1922 nur an den Wochenenden in Gstaad sein. Dort pilotierte er den von August Haefeli und Louis Lergier konstruierten Sitzgleiter des Thuner Gleit- und Segelflugvereins. Der Thuner Gleiter überzeugte in Gstaad: Die Zuschauer waren begeistert, wie der Gleiter auf seinen Kufen den Hang hinunterrutschte, mit Leichtigkeit abhob und in eleganten Kurven dem Landefeld entgegenflog. «Wohl möglich, dass hier ein beliebtes Wintersportgerät am Entstehen ist!», schrieb Robert Gsell. Albert Cuendet landete mit dem Thuner Gleiter mit 17 Flügen und einer Gesamtflugzeit 371,5 Sekunden auf dem zweiten Platz.

Segelflug und Alpen – ein Traumpaar
Es sollten noch gut zehn Jahre vergehen, bis der Segelflug in der Schweiz richtig Fuss fassen konnte. In den 1930er-Jahren fanden die Schweizer Segelflugpiloten mit eigenen Segelflugzeugkonstruktionen schnell Anschluss an die Weltspitze. Und schon bald erwiesen sich die Alpen als perfekter und spektakulärer Aufwindspender für den Segelflug. Die zweite internationale FAI Segelflug-Weltmeisterschaft fand 1948 in Samedan in den Schweizer Alpen statt.

100-Jahr-Jubiläum wird gefeiert
Das erste Saanenlager der SG Bern fand im Juli 1947 auf dem 1943 eröffneten Militärflugplatz Saanen statt. Seit rund einem halben Jahrhundert verlegen Piloten verschiedener Segelfluggruppen aus dem Schweizer Mittelland ihre Aktivitäten im Sommer in die Schweizer Alpen – um hier die schönsten Flüge der Saison erleben zu dürfen. Piloten und Flugschüler aus dem Saanenland betreiben den Segelflugsport in der 1970 gegründeten Alpinen Segelfluggruppe Zweisimmen. Im Jahr 2018 wurde der in Saanen ansässige Verein Alpines Segelfluglager Saanen gegründet, welcher seither die Tradition der Segelfluglager auf dem Flugplatz Saanen weiterführt. Dass das alles vor hundert Jahren bescheiden in Gstaad begonnen hatte, ist heute vielen Segelfliegern nicht mehr bekannt. Deshalb wird der Segelflugverband der Schweiz zum 100-Jahr-Jubiläum «Gstaad 1922» in Erinnerungen rufen. Es ist auch ein Denkmal in Gstaad geplant.

DANIEL STEFFEN


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