Grosse Rettungsaktion von Geissen am Fuss des Hahnenschritthorns auf 2700m ü. M.

  07.01.2022 Lauenen

«Es ist einfacher, einen Bergsteiger aus der Eigernordwand zu retten als verängstigte Geissen in steilen Couloirs aus Schnee und Eis», sagt Landwirtin Regula Oehrli aus Lauenen. Ihre Geissen verwilderten wegen traumatischen Erlebnissen. Anfang Dezember wurden sie per Helikopter ins Tal gebracht.

BLANCA BURRI
Alles begann vor drei Jahren, als die acht Geissen von Regula Oehrli ein traumatisches Erlebnis hatten. Für das Verständnis muss man mit der Erzählung jedoch früher beginnen. Familie Oehrli hat das «Chüjere» im Blut. Regula geht in der vierten Generation auf Gelten (2000 Höhenmeter) «z Bärg». Sie verbrachte dort über 30 Sommer, wenn man ihre Schulzeit mitrechnet. Drei Wochen verbringt sie ab Ende Juni jeweils auf der Usseri Gälte, dann sechs Wochen auf der Inneri Gälte und wieder zwei Wochen auf der Usseri Gälte. Ihre Eltern waren während 34 Jahren zusätzlich Hüttenwarte der SAC-Geltenhütte. Nachdem die Hütte 1969 am jetzigen Standort neu errichtet worden war, kaufte ihre Familie die alte Hütte, die wenige Meter unterhalb der neuen in einer Senke liegt.

Regula Oehrlis Vorfahren sömmerten jeweils Simmentaler Kühe, Schafe und Geissen. Als die Bäuerin den Hof vor 17 Jahren vom verstorbenen Vater übernahm, überlegte sie, wie sie den Betrieb weiterentwickeln könnte. «Das Rottal erinnerte mich immer an den Tibet, wo die Yaks heimisch sind», sagt sie. Deshalb hat sie mit der Yakzucht begonnen und ist erfolgreich und zufrieden damit. Die Alpzeit verlängert sich damit im Herbst um fast zwei Monate.

Erst sehr zutraulich, dann traumatisiert
Immer mit dabei waren sieben bis neun Geissen. «Ich hatte Bündner Strahlenziegen und eine Walliser Geiss, beide mit markanten Hörnern. Sie waren wie Familienmitglieder, immer um mich herum, beispielsweise beim Zäunen», erinnert sich die Lauenerin. Im September 2019 dann der Einschnitt. Die Geissen grasten bei der Schlucht etwa 200 Meter Luftlinie unterhalb der SAC-Geltenhütte, wo der alte Weg und eine einfache Brücke über den Gältebach führen. Dort musste an jenem Septembertag etwas Fürchterliches geschehen sein, denn zwei der Geissen fehlten plötzlich und die anderen waren «ganz verstört». Oehrli vermutet, dass ein Luchs, der damals beobachtet worden war, eine Geiss reissen wollte.

Die Älplerin suchte anschliessend tagelang nach der vermissten Walliser Geiss und der erst eineinhalb Jahre alten Bündner Strahlenziege, fand sie aber nicht. «Ich habe Tausende Tiere gesömmert. Man kann viele Schicksalsschläge verdauen von verletzten und abgestürzten Tieren, aber man kann nicht abhaken, wenn die Tiere verschollen bleiben», sagt die Tierliebhaberin. Deshalb organisierte sie damals schon einen Helisuchflug. Aber auch dieser blieb erfolglos. Erst zwei Monate später, am 7. Dezember, einen Tag bevor es meterhoch einschneite, zeigte sich die junge Geiss auf einem Bauernhof unweit des Lauenensees. «Der Instinkt führte sie hinab ins Tal. Das Tier trug am Schenkel eine vernarbte Verletzung. Ich vermute, sie stammte vom Luchsangriff im September», sagt die Älplerin. Sie brachte die Geiss in den Stall zu den anderen und hoffte, auch die zweite vermisste Geiss wiederzufinden. Deshalb montierte sie wieder Gamaschen und Bergschuhe und stieg zum Feissenberg auf. «Weiter kam ich wegen der Lawinengefahr nicht», sagt sie. Leider blieb die zweite Ziege verschollen. Die Älplerin zog daraufhin den Schluss, dass die ältere Geiss auf der Flucht vor dem Luchs in die Schlucht gestürzt sein musste.

Geissen blieben traumatisiert
«Seit diesem Vorfall sind die Geissen traumatisiert», bedauert Oehrli. Das habe sie erst nicht wahrhaben wollen, denn sie habe im Winter ihr Vertrauen wieder gewinnen können. Bereits im Sommer 2020 zogen sich die Tiere oft in die Felswände zurück. Im darauffolgenden Winter hat sich das Spiel der Wiederangewöhnung wiederholt.

Richtig schlimm kam es im Sommer 2021: Während den ersten 14 Tagen auf der Alp hätten sich die Geissen einfach mit «Gläck» anlocken lassen und die Nacht im Stall verbracht. An einem Abend Anfang Juli habe sie den Stall wiederum geöffnet und die «Gläckbox» geschüttelt, was die Geissen wie immer angezogen habe. Gleichzeitig habe sich ein Wanderer auf dem nahen Wanderweg genähert. Sein Hund sei nicht angeleint gewesen. Er habe die Geissen angebellt. Als diese davonstieben, habe er sie verfolgt. Nach dieser Verfolgungsjagd flüchteten die Geissen innerhalb weniger Minuten in die Felsen und kehrten nie mehr zurück. «Ich mache dem Hundehalter keine Vorwürfe, denn es ist schwierig, immer das Richtige zu tun. Bei Mutterkühen beispielsweise ist es sinnvoll, die Hunde nicht an der Leine zu führen», erklärt Oehrli.

«Wie kann man einer Geiss erklären, dass ein Hund kein Luchs oder Wolf ist?», fragt Regula Oehrli, ohne eine Antwort zu erwarten. Sie beobachtete die Tiere daraufhin jeweils mit dem Feldstecher und stieg so oft wie möglich mit etwas «Gläck» im Rucksack zu ihnen hoch. Doch die Ziegen liessen sie nur noch auf 20 Meter in ihre Nähe. Das «Gläck» interessierte sie nicht mehr. Manchmal blieb die Älplerin ein wenig sitzen und verspeiste ein Picknick. Dabei beobachtete sie folgende Szene: Sahen die Geissen auf dem Wanderweg, der an den Alphütten vorbeiführt, einen Hund, warnten sie sich gegenseitig. Das Geräusch ähnelt dem Spucken eines Menschen. Danach zogen sie sich weiter in die höher gelegenen Felsen zurück. Sie bewegten sich inzwischen so sicher wie Gämsen. Oehrli kam nur noch mit Steigeisen und Pickel in ihre Nähe und kehrte oft niedergeschlagen in die Hütte zurück.

Rettungsaktion per Heli
Die Lauenerin hoffte immer wieder, dass sie die Tiere im Herbst ins Tal locken könne, sobald es weniger Wanderer und Hunde hat. Aber der vergangene Herbst war so warm und sonnig, dass die Wanderer zahlreich blieben.

Oehrli litt mit den Tieren, die bei hohen Minustemperaturen auf bis 2700 Höhenmetern ausharrten. Schliesslich blieb ihr nur noch die Rettung per Heli. Dreimal rückte Oehrli mit ihren Helfern und dem Air-Glaciers-Team aus, um die Tiere zur Hütte zu treiben, was leider immer misslang. «Anfang Dezember entschieden wir uns schliesslich für die Bergung der Geissen an der Longline, ähnlich der Personenrettung», sagt Oehrli. Der Heli führte zwei erfahrene Bergführer an der Longline. Sie trieben die Tiere an eine Stelle, wo sie nicht fliehen konnten, packten sie und flogen sie zu einem Felssattel, wo sie gesichert und in Säcke verpackt ins Tal transportiert wurden. Dass die Tiere so viel Stress erlebt haben, bedauert die Besitzerin sehr. Gleichzeitig ist sie sehr froh, dass die Rettung geglückt ist. «Ich bin dem Team der Air-Glaciers und den Bergführern sehr dankbar», sagt Regula Oehrli.

Die ganze Aktion über so lange Zeit ist ihr sehr nahe gegangen. «Die Rettung von grösseren Tieren ist bei einer Versicherung der Älpler abgedeckt, nicht aber die von Schafen und Geissen. Ich wollte die Geissen nicht ihrem Schicksal überlassen. Das Tierwohl stand immer an erster Stelle», erklärt sie.

Selbstkritische Halterin
Regula Oehrli tut es leid, dass es so weit gekommen ist, dass die Geissen nur noch per Heli gerettet werden konnten, und sie gibt sich auch selbstkritisch: «Ich war wohl etwas zu optimistisch, ich habe nicht erwartet, dass die Traumatisierung der Geissen ein Leben lang anhält. Deshalb habe ich wohl zu lange probiert. Ich habe alles getan, um sie wieder an mich und die Umwelt zu gewöhnen, aber es hat offensichtlich nicht funktioniert.» Hätte sie vor drei Jahren gewusst, was es bedeute, wenn Tiere traumatisiert sind, hätte sie sich bereits damals von den Geissen getrennt. So wäre allen viel erspart geblieben. Die Geschichte zeigt auf, dass das Zusammenleben von Raubtieren und Nutztieren tiefe Spuren hinterlassen kann. Schutzmassnahmen seien schwierig: «Schutzhunde können bei Geissen nicht eingesetzt werden.» Geissen auf Gelten einzuzäunen, kann sich Regula Oehrli nicht vorstellen. Sobald die Tiere aufgepäppelt sind, werden sie von ihrem Trauma erlöst. Dass sie neue Geissen anschaffen wird, kann sie sich nicht vorstellen.


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