Von glücklichen Bauern, offenen Gartentörchen und Tapetenrosen – zum 150. Todestag von Johann Jakob Hauswirth 1809–1871

  31.12.2021 Region

Hauswirth est un artiste dont on ne sait rien ou presque, et pourtant un artiste qui, quand on regarde son æuvre, est là, à côté de nous, avec ses peines, avec son amour d’animaux et de gens ... De son vivant, il se tenait à l’écart et semblait n’avoir rien à dire; aujourd’hui, ses découpages vibrent encore de toutes ses émotions et nous touchent profondément. Son temperament d’artiste a sublimé son mutisme en un discours universel. C’est le miracle Hauswirth. Claude Allegri

Es wäre eine unverzeihliche Unterlassungssünde, würde des grossen Scherenschnittkünstlers im «Anzeiger von Saanen» nicht gedacht. In letzter Minute, am Ende seines 150. Todesjahres, sei dies hier getan.

Johann Jakob Hauswirth ist schwer zu fassen: Man kennt von ihm lediglich das Tauf- und Todesjahr. Was sich in den 62 Jahren seines Lebens verbirgt, liegt eigentlich im Dunkeln. Ein Hüne, riesengross von Gestalt, der die Schere nur mittels Drahtringen in der Hand halten konnte.

«On dit»
Es gibt mündliche Überlieferungen von Generation zu Generation, Gerüchte einer unglücklichen Liebe und manches «on dit». Ein solches «on dit» ist die Anekdote über «Schanti-Scholi» (nach der Aussage von Ueli Haldi, des ehemaligen Chefs der Wasserversorgung, hiess er christlich Albert Roth). Er soll die «Hauswirthe» für fünf Franken verkauft haben. Was für Zeiten! Heute sind sie gesuchte Raritäten und erzeugen absolute Spitzenpreise.

Die sicherste Informationsquelle sind wohl die Gebrüder Constant und Théodore Delachaux: Der Zeichenlehrer und Künstler Théodore begleitete seinen Bruder Constant, er war Arzt in Château-d’Oex, zu Hausbesuchen bei seinen Patienten. In manchen Stuben hing damals ein «Hauswirth». Die Brüder begannen, sie zu sammeln. Nach ihrem Tod gingen die Kunstwerke eigene Wege, viele davon sind im Musée du Vieux Pays-d’Enhaut in Château-d’Oex zu sehen.

Die meisten Werke aus dieser Sammlung sind rückseitig mit «Delachaux Château-d’Oex» gestempelt, was wohl einem Echtheitszertifikat gleichkommt.

Delachaux benennt auch ein wichtiges Phänomen in Hauswirthts Schaffen: den «Horror Vacui» (Anm. der Redaktion: lat. Scheu/Schrecken vor der Leere). Es ist eine der faszinierendsten Komponenten seiner Werke. Es gibt keine leeren Stellen. Auch die kleinste Aussparung wird bereichert durch einen Bären, eine Blume, ein Vögelchen oder ein Eichhörnchen. Hauswirth war als geborener Saaner dem Berner Bären im Wappen stets zugeneigt.

Taglöhner von Haus zu Haus
Wie überliefert wird, zog Hauswirth als Taglöhner im oberen Simmental, im Saanenland und im Pays-d’Enhaut von Haus zu Haus, bot seine Dienste an und erhielt dafür Kost und Logis. Als Dank dafür fertigte er aus Papierresten kleine sogenannte «marques» an, die er wohl den Kindern schenkte: Paare, Vögelchen, Pferde, Kühe, Eichhörnchen, Hasen, Hühner, Hirsche, die man sorgfältig in Bücher oder die Familienbibel legte, damit sie nicht beschädigt wurden. Ich kenne keine «marques» mit Kühen, obwohl doch die Kuh sein eigentliches Hauptthema war. Ich weiss nicht warum.

Hauswirth hatte aber auch feste Freunde: Zu der Familie Zeller auf dem Flühli in Boltigen – hier soll er aufgewachsen sein – und zu Schwizgebels auf dem Unterbort in Saanen hatte er offensichtlich enge Beziehungen und kehrte immer wieder dorthin zurück.

Darstellung lädt zu Interpretationen ein
Aus der Sammlung Zeller – heute in Berner Privatbesitz – gibt es ein ganz besonderes Werk. Jeder Kenner weiss, dass Hauswirth immer und immer wieder Gartenzäune mit geschlossenen Türchen schnitt. Die Tatsache, dass diese immer geschlossen sind, gibt Anlass zu zahlreichen Spekulationen: trauriges Schicksal, unerfüllte Liebe, Schwermut ... Beim unteren Bild aber ist das Türchen offen. Darin steht eine Figur, sichtlich kleiner als die anderen Personendarstellungen, ist es ein Kind? Daneben befinden sich eine Frau mit Sonnenschirm, ein Reiter zu Pferd und ein kleiner Hund.

Darüber sieht man Springbrunnen, Figuren, die Reifen treiben, im untersten Viertel stattliche Häuser, Kinder auf einer Schaukel, auf einem «Ritigampfi», eine liegende Figur auf einem Bock, wieder den Hund und eine Katze. Andere Figuren schauen dem bunten Treiben zu. Diese Darstellung lädt natürlich zu Interpretationen ein.

Hauswirth an der Lenk
Dass Hauswirth auch an der Lenk weilte, beweist ein Taufzettel für Rosalia Tritten aus dem Jahr 1861. Die Taufpaten bedienten sich nicht der ortsüblichen, vorgedruckten und kolorierten Vorlagen, auf denen man Namen und Daten vermerkte, sie dann kunstvoll faltete und mit einem Goldstücklein versah – nein, vornehm beauftragten sie Johann Jakob Hauswirth.

Bordüren (siehe Abbildung rechts)
Den Papieren, die Hauswirth gebrauchte, wohnt eine eigenartige Faszination inne. Man kennt sie: Schwarz als Grundfarbe, Orange, oft – etwas verblichen – ein kräftiges Grün, meist bei den Bäumen, ein schwaches Grün für Details wie Grasstücke oder Fenster, selten Gelb, ein ganz kräftiges, oft vorkommendes Stahlblau, Marmorpapier, wohl von einem Buchbinder, selten Gold für den Bären oder die Jahreszahl. Woher stammen die Papierstücke? Von einem Buchbinder? Einem Täfeli? Der Hülle eines Zuckerstocks?

Ganz speziell, und an Schrankpapier erinnernd, das blauweisse Karo, gestempelte Bordüren und natürlich die Rosentapete.

Tapetenrosen sind wie der Stempel «Delachaux» sicherster Beweis eines Scherenschnittes von Hauswirth. Signiert hat er nicht, man weiss nicht ob er des Lesens und Schreibens kundigt war. Possierlich sind die Inschriften «HOTEL DEVILE» und «HOTEL DE PANSION».

Die Rosentapete (siehe Abbildung links)
Hauswirths Rosen! Rosa, selten blau, mit oder ohne Blätter, ganz offensichtlich ein Stück Tapete. Völlig entzückt hat mich ein feines Rosenbändchen auf einem «Hauswirth», der im Frühjahr auf einer Auktion in Basel über die Bühne ging. Mit Sicherheit der obere Rand einer Tapete.

Was mag er empfunden haben, als er auf der Suche nach noch brauchbarem Papier auf einen Rest der Rosentapete stiess? Hat es ihn beglückt? Oder doch etwas befremdet, weil er eigentlich seine Blumen anders gestaltete? Schemenhaft sind seine Tulpen, Margeriten oder Nelken, den Malereien auf den Möbeln seines Heimattales nachempfunden. Woher hatte er seinen Fundus?

Woher stammen seine Papiere? Die Tapete. Die Marmorierten. Das leuchtende Blau. Das blasse Grün. Das knallige Orange. Das Gold. Warum gibt es kaum Rot? Oder ist es einfach verblasst?

Wie mag er seine Papiere aufbewahrt haben? Im ledernen Rucksack? In einer Schachtel ? Wo lagerte er seine Schätze, wenn er sesshaft war? Wie konnte er das zerknitterte Papier glatt streichen?

Gerne wüsste man mehr. Und doch würde es den Zauber schmälern. Lassen wir seine Geheimnisse die unseren werden.

FRANZISKA HALDI

Literaturhinweis
Allegri Claude, J.J.Hauswirth et l’art du découpage, Lausanne
Apothéloz Charles, D-eux imagiers du Pays-d’Enhaut,
Editions Fontainemore, 1978
Rubi Christian, Scherenschnitte aus hundert Jahren,
Hans Huber, 1959

Die Fotos wurden freundlicherweise vom Auktionshaus «Beurret Bailly Widmer», Basel, zur Verfügung gestellt. Und Markus Beyeler ist liebenswürdigerweise kurzfristig als Fotograf eingesprungen.


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