Folgenschwerer Irrtum: die Chronik eines mysteriösen Brandanschlags

  10.12.2021 Pays-d'Enhaut, Interview

Am 5. Januar 1975 ging hoch über Rougemont die Ferienresidenz des deutschen Grossverlegers Axel Springer in Flammen auf. Jahrelang vermutete man, dass linksgerichtete RAF-Terroristen hinter dem Brandanschlag steckten. Was war damals geschehen, und vor allem warum? Wieso kam es so spät zu einem öffentlichen Geständnis? Jüngst fiel mir wieder die Erzählung der Tat in Buchform von 2006 in die Hände, welche genau diese Fragen beantwortet.

MARTIN GURTNER-DUPERREX
«An einem schönen Sonntag im Kalten Krieg habe ich oben auf einem Schweizerberg Axel Caesar Springers Chalet in Brand gesteckt.» So beginnt der Tatbericht des Genfer Architekten und Schriftstellers Daniel de Roulet, den er 2006, mehr als 30 Jahre später, unter dem Titel «Ein Sonntag in den Bergen» als Buchform herausgeben hat.

Nach einer feudalen Nacht im Palace Hotel in Gstaad steigen der junge Mann und seine Freundin an einem eiskalten Januarmorgen mit Ski und in Tarnkleidung zur einsamen Ferienresidenz des milliardenschweren deutschen Zeitungsverlegers Axel Springer auf den Rodomont Derrière – den Grossenberg – hoch. Während seine Freundin Wache schiebt, versucht er zuerst vergeblich, mit dem Brecheisen die gepanzerte Türe zu knacken. Schliesslich gelingt es ihm, einen der Fensterläden zu lösen und durch ein Fenster einzusteigen. «Im Wohnzimmer stellte ich aus Gardinen und Decken mehrere Brandherde zusammen», erklärt er seine brandstifterische Installation, die er «teuflisch simpel» nennt. Diese verbindet er über die ausgelegte Brennpaste mit zwei grossen Kerzen, die «ruhig vor sich hin brennen und nachts zuerst die Stoffe, dann die Deckenbalken in Brand setzen» sollten. Obwohl ihn im letzten Moment Zweifel befallen, zündet de Roulet die Kerzen an und verlässt eiligst das Gebäude. Als es in der folgenden Nacht in Flammen aufgeht, sind die beiden längst über alle Berge. Von der einstigen Luxusresidenz bleibt nur ein Aschen- und Trümmerhaufen übrig.

Trotz intensiver internationaler Ermittlungen können die Täter nicht identifiziert werden. Verdächtigt wird die linksextremistische deutsche Terrororganisation Rote Armee Fraktion (RAF), die sich ein Jahr vorher zum Brandanschlag auf Springers Ferienhaus in Sylt bekannt und einen Bombenanschlag auf sein Verlagshaus in Hamburg verübt hatte.

Die Radikalisierung: Klassenfeinde und Sonntagsterroristen
Daniel de Roulet wurde durch die 68er-Studentenunruhen, den Kalten Krieg und den Vietnamkonflikt geprägt und radikalisiert. Er hielt sich damals Paris auf. «Ende der Sechzigerjahre schien alles möglich, sogar, trotz des Kalten Krieges, die Eröffnung einer neuen militärischen Front», schreibt er. «Überall bildeten sich Gruppen, deren Ziel der gewaltsame Umsturz der Gesellschaftsordnung war.»

Insbesondere in Deutschland und Italien «floss reichlich Blut», womit sich de Roulet auf die brutalen Entführungen, Geiselnahmen und Terroranschläge der RAF – auch als Baader-Meinhof-Bande bekannt – und die Roten Brigaden bezieht, die vor allem in den 1970er- und 1980er-Jahren zahlreiche Todesopfer forderten.

Die wenigen Schweizer, die in den Untergrund gingen, seien aber «auf eher sanfte Weise aktiv» gewesen, so der Autor. Sie hätten nur am Wochenende zugeschlagen und sich unter der Woche gutbürgerlich ihren Lebensunterhalt verdient. «Man muss also leben wie der Klassenfeind», ermahnt de Roulet seine Freundin vor der Tat und nennt sich und seinesgleichen «Sonntagsterroristen». «Im bewaffneten Kampf gegen den Eidgenössischen Staat blieben wir ein Muster an Legalismus», schildert er die Situation. «Immerhin konnten wir einige beispielhafte, symbolische und gänzlich hausgemachte Aktionen verbuchen.» Er habe nur hin und wieder an einer Demo mitgemacht, «darunter auch ein paar gewaltsame» – abgesehen von einer Reise ins «Mao-China» und seine Erfahrung mit «Kommunen».

Er betont jedoch, dass er keiner Organisation angehörte und es ablehnte, «die körperliche Unversehrtheit unserer Feinde anzutasten».

Die Tatgründe: «Aber ein bisschen plötzlich, Kameraden»
«Raus mit den Nazis und Dritte-Welt-Ausbeutern, die unsere herrlichen Alpen als Schlupfwinkel missbrauchen. Aber ein bisschen plötzlich, Kameraden!», schreibt de Roulet in einem anonymen Bekennerschreiben nach der Tat. Er glaubte noch lange nach dem Brand «felsenfest», dass der rechtskonservative Pressemagnat Axel Springer, der Herausgeber der «Bild-Zeitung» und der «Welt», ein Nazi war. De Roulet stellt ihn als Verantwortlichen für all das hin, was ihn «an die Nazizeit erinnerte».

Auch die Verantwortung für den Anschlag auf den deutschen Studentenführer Rudi Dutschke, der 1968 von einem Rechtsextremen lebensgefährlich angeschossen wurde, wird Springer in die Schuhe geschoben, weil dessen Zeitungen gegen ihn aufgehetzt hätten. Daraufhin wurden in ganz Deutschland seine Verlagshäuser verwüstet – und die Demonstrationen vor der deutschen Botschaft in Paris lösten schliesslich in Frankreich die folgenschweren 68er-Mai-Studentenunruhen aus. Der Presseverleger wurde für die linksgerichteten Aktivisten «das Symbol des Kalten Krieges schlechthin». Es war die Zeit des Vietnamkrieges, den sie zu sich in den Westen in «jedes gutbürgerliche Haus» tragen wollten.

Als der berühmte französische Philosoph Jean-Paul Sartre 1974 in einem Hochsicherheitstrakt den RAF-Terroristen Andreas Baader besuchte, dessen Haftbedingungen er mit einem Konzentrationslager verglich und wiederum «harte Vorwürfe» gegen die Springer-Presse richtete, reifte in Daniel de Roulet die Überzeugung, zur Tat schreiten zu müssen.

Und nicht zuletzt spielte bei der Entscheidung die Liebe eine Rolle, da de Roulets Freundin ihm vorwarf, nur Sonntagsreden zu halten, «ein Versager» zu sein und ein «kleinbürgerlicher Stubenhocker». Er wollte ihr beweisen, dass er dieses Mal zu seiner Überzeugung stehen würde und «auch mal ein Held sein konnte». «Ich habe sie beim Wort genommen und um kaum mehr als einer Laune willen meine und ihre Freiheit aufs Spiel gesetzt», bedauert er.

Der Irrtum: «Die Nazis hatten nicht genug Stil für mich»
Neben seiner Machtsucht, Hochmütigkeit, Paranoia, Schwäche für Autos und Frauen sowie seinen fünf Ehen lernt man im Verlauf von Daniel de Roulets Erzählung sukzessive einen anderen Axel Springer kennen. Als eine Berliner Psychiaterin ihn an einem offiziellen Anlass darauf aufmerksam macht, dass der Presseverleger «alles Mögliche, aber kein Nazi» war, beginnt der Genfer Schriftsteller fast dreissig Jahre nach seiner Tat, sich ernsthaft mit dem Leben dieser Persönlichkeit auseinanderzusetzen.

Er erfährt in einer «dicken Biografie», wie Springer im Nachkriegsdeutschland mithilfe der Engländer zum Grossverleger wurde oder dass er als «Wohltäter» der Gemeinde Rougemont in den 1970er-Jahren zum Bau der Mehrzweckhalle beitrug. Aber auch, wie sein Sohn und potenzieller Nachfolger 1980 Selbstmord beging. Und schliesslich, wie der alte Verleger 1985 als gebrochener Mann starb, weil er diesen Schicksalsschlag weder verstehen noch verkraften konnte.

Vor allem wird Daniel de Roulet während dieser Lektüre klar, dass er sich geirrt und Axel Springer «sein Reich nicht mit dem Blut der Naziopfer errichtet» hatte. Die Tatsache, dass sein Vater sich engagiert gegen Hitler wandte, seine erste Frau Jüdin war und ihn das Schicksal Israels zeitlebens beschäftigte, dürften ihn vollends überzeugt haben. Auf die Frage, ob er Nazi gewesen sei, soll Springer – so zitiert ihn de Roulet – geantwortet haben: «Die Nazis hatten nicht genug Stil für mich.»

Zurück am Tatort: Springers Vermächtnis
Von Gewissensbissen geplagt, kehrt Daniel de Roulet zum Ort seiner Tat zurück. Dort, wo einst das «hochmütige Bauwerk» stand, findet er nur noch ein aus Natursteinen gemauertes Denkmal. Auf einer bronzenen Tafel hinterliess der tiefgläubige Axel Springer den Brandstiftern die Worte von Nikolaus von Flüe, dem eidgenössischen Friedensstifter: «Was die Seele für den Leib ist, ist Gott für den Staat. (...) Wenn Gott aus dem Staat getrieben wird, ist er dem Untergang geweiht.»

«Herr Springer, ich hätte nicht geahnt, dass meine damaligen Gefühle mit solcher Heftigkeit wieder aufflammen würden. Hier oben auf dem Berg zu sein und zu spüren, dass Sie die Partie gewonnen haben», gesteht der Täter seinem Opfer – Springer war schon lange tot – in einem geistigen Monolog ein.

Als einer der meistbedrohten und -gehassten Männer Deutschlands hatte der Milliardär mit ständigen unangekündigten Wohnsitzwechseln, gepanzerten Limousinen und Leibwächtern vor der Schlafzimmertür längst jegliche Bewegungsfreiheit verloren. Weil er durch den Brand nun auch noch den Ort seiner «amourösen Eskapaden» verlor, ringt sich de Roulet zu einer Entschuldigung durch: «Sollte der Brandanschlag auf Ihr Chalet zu dieser Art von Unannehmlichkeiten geführt haben, so möchte ich mich hier aufrichtig dafür entschuldigen.»

Gleichzeitig erinnert er ihn aber daran, dass auch er für den Anschlag mitverantwortlich war, weil er seine Leserschaft gegen die Studenten aufgehetzt hatte. Aufrichtiger tönt es, wenn er später festhält, dass er den «grossen Verleger» mit einem Nazi verwechselt habe und sich dafür auch bei dessen Familie und Freunden entschuldige.

Spätes Geständnis: einer Jugendliebe gewidmet
Warum entschliesst sich Daniel de Roulet, nachdem er seinen Irrtum bezüglich Axel Springers Vergangenheit eingesehen hat, zu einem öffentlichen Geständnis? Bestimmt ermutigt ihn die Erkenntnis, dass der Anschlag rechtlich längst verjährt war – doch etwas anderes hält ihn noch zurück.

Seine Komplizin und ehemalige Freundin, von der er sich kurz nach dem Anschlag trennte, ist schwer krebskrank. Er macht ihr bei einem Wiedersehen klar, dass sie damals «das falsche Ziel ausgesucht» hatten, die ganze Aktion «umsonst» war. Er verspricht der erfolgreichen Geschäftsfrau, sein Geständnis erst nach ihrem Tod zu veröffentlichen und es ohne Namen «einer Jugendliebe» zu widmen – da sie immer noch glaubt, er habe die Tat ihretwegen begangen. «Ein Sonntag in den Bergen» kommt dementsprechend ein Jahr nach ihrem Hinschied 2006 heraus.

Quelle und Zitate: Daniel de Roulet, «Ein Sonntag in den Bergen. Ein Bericht». Limmat-Verlag, Zürich, 2006


«Meine Tat wird oft von Leuten beurteilt, die mein Buch nicht gelesen haben»

MARTIN GURTNER-DUPERREX

Daniel de Roulet, welches ist Ihre Beziehung zum Saanenland?
Ich mag die Region sehr und komme fast jedes Jahr vorbei. Ich war auch schon bei Freunden zu Gast, die ein Chalet in Gstaad haben. Im Jahr der Veröffentlichung des Buches «Ein Sonntag in den Bergen», 2006, wurde ich vom Pächter auf dem Rodomont, der bereits 1975 vor Ort war, auf die Alp eingeladen. Es war der Tag nach dem 1. August und er hatte einige Leute eingeladen. Es war ein sehr schöner Moment der Versöhnung.

In Ihrer Erzählung deuten Sie an, dass sich Axel Springer gewisse «Unannehmlichkeiten» hätte ersparen können, wenn er anders gehandelt hätte. Bedauern Sie die Tat?
Ich habe meine Haltung gegenüber dem, was ich in meinem Buch geschrieben habe, nicht geändert. Meine Tat wird oft von Leuten beurteilt, die mein Buch nicht gelesen haben. Sie lässt sich vor dem Hintergrund des Kalten Krieges erklären, in dem der Hass zwischen den Menschen noch stärker war als heute.

Warum haben Sie sich erst dreissig Jahre nach der Tat mit der Vergangenheit von Axel Springer auseinandergesetzt?
Ich kümmerte mich nicht um Springers Vergangenheit, weil ich mich der Meinung anschloss, die jeder von ihm hatte. Er selbst hat sich in diesem Punkt nie verteidigt. Und auch sein Biograf gab zu, dass er zu Beginn seines Buches gedacht hatte, Springer sei ein ehemaliger Nazi. Die wahre Version der Dinge habe ich erst 2003 von einer Berlinerin erfahren.

War Ihr Geständnis ehrlich gemeint oder war es eher ein Mediencoup?
Nein, es war kein Mediencoup. Ich hatte meiner damaligen Freundin versprochen, diesen Text nach ihrem Tod zu veröffentlichen. Und ich musste ihn veröffentlichen, um mein Wort zu halten. Das gesamte Geld, das ich als Autorenhonorar erhielt, spendete ich für die Ausbildung der Feuerwehrleute im Kanton Waadt. Es tat mir leid, dass sie wegen mir nachts ausrücken mussten.

Hatten Sie die Gelegenheit, sich bei der Familie Springer persönlich zu entschuldigen?
Ich schrieb der Witwe Springers einen Entschuldigungsbrief. Sie hatte zum Zeitpunkt der Tat noch als Kindermädchen bei der Familie gearbeitet. Ich sollte sie in Berlin treffen, aber der Springer-Konzern zog es vor, die Geschichte ruhen zu lassen.


DANIEL DE ROULET, AUTOR UND TÄTER – REALITÄT ODER FIKTION?

Daniel de Roulet wurde als Sohn eines Westschweizer Pfarrers 1944 geboren. Er arbeitete als Architekt und Informatiker in Genf, ab 1997 betätigte er sich als Schriftsteller. Für seine zahlreichen Romane erhielt er mehrere Preise.

Aufsehen erregte er 2006 durch seine Erzählung «Ein Sonntag in den Bergen», in dem er sich zum Brandanschlag von 1975 auf das Ferienhaus des deutschen Verlegers Axel Springer ob Rougemont bekennt. Es wird davon ausgegangen, dass er der Täter war. In Literaturkreisen gibt es jedoch Stimmen, die die Realität der von ihm beschriebenen Ereignisse in Zweifel stellen.

Da die Tat bei der Veröffentlichung verjährt war, musste er nicht mit einer Strafverfolgung rechnen. Eine im Nationalrat geforderte Rückzahlung von erhaltenen öffentlichen Fördergeldern war gesetzlich nicht durchsetzbar. In einer Stellungnahme verurteilte der Bundesrat aber «diese Tat in aller Schärfe» – sofern es sich nicht um «Prahlerei» gehandelt habe.

FOTO: MARTIN GURTNER-DUPERREX

 

 


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