Zwei Höhepunkte mit dem Gstaad Festival Orchestra

  17.08.2021 Kultur

Nach seinen intensiven Wochen als «Werkzeug» der Conducting Academy, entfaltete das Gstaad Festival Orchestra unter der Leitung von Jaap van Zveden in seinen beiden Auftritten am vergangenen Wochenende seine hervorragenden Qualitäten mit der Interpretation grosser Sinfonien und wiederum als Begleiter höchst anspruchsvoller Solistenkonzerte.

KLAUS BURKHALTER
Gstaad darf sich glücklich schätzen, mit «seinem» Orchester einen klingenden Werbeträger zu besitzen, der mit seinen Weltklasse-Konzerten jedes Jahr aufs Neue begeistert und den innovativen Geist des Festivals in viele Musikzentren der Welt hinausträgt. Beim ersten Blick auf das Freitagsprogramm fragte sich wohl jedermann, welche Beziehung zum Rahmenthema «London» diese Werke wohl hätten. Die Lösung des Problems: Sowohl die Oberon-Ouvertüre von Carl Maria von Weber als auch Antonìn Dvorˇáks Sinfonie Nr. 7 hatten im 19. Jahrhundert ihre Uraufführungen in der englischen Kulturmetropole erlebt. Beide Werke erhielten damals begeisterte Zustimmung und sie verfehlten ihre Wirkung auf das Publikum auch im Festivalzelt nicht. Die Oberon-Ouvertüre war eine Art Visitenkarte des Orchesters und seines genialen Chefs Jaap van Zveden. Dieser entwickelte vom ersten Einsatz an eine enorme Vielseitigkeit an unterschiedlichsten Gefühlen. Nach der geheimnisvoll flirrenden Einleitung brach der überwältigende Allegro-Jubel mit den markanten Hornrufen aus. Und der Maestro spornte an, besänftigte, gestaltete mit enormer Intensität – er lebte die Werke. Das Orchester ging auf die Intentionen seines Chefs ein.

Van Zvedens Gestaltungsfreude zeigte sich auch in der 7. Sinfonie von Dvorˇák hinreissend. Wie ein Magier auf der Bühne führte er durch das grosse Werk mit seinem kämpferischen Charakter, in dem der Komponist den patriotischen Wunsch der damaligen Tschechen nach einem blühenden Nationalstaat ausdrücken wollte. Er holte alle Schattierungen von Dvorˇáks Absichten aus dem Orchester hervor, vom düster bedrohlichen Start über die fröhlich-slawischen Themen und die charakteristischen böhmischen Volkstänze mit ihrer spannenden Rhythmik bis hin zum triumphalen Finale. Die Intensität der Streicher und die hervorragenden Bläser bleiben tief in der Erinnerung haften.

Der Zauber der Kathia Buniatishvili
Mit Peter Tschaikowskys Klavierkonzert Nr. 1 in b-Moll op. 23 erlebte das Publikum in der Interpretation von Kathia Buniatishvili einen absoluten Festivalgipfel. Das Werk hat echte Ohrwurmqualitäten, ist eines der meistgespielten Klavierkonzerte und hatte schon zu Tschaikowskys Lebzeiten für reichlich Diskussionsstoff gesorgt. Des Komponisten Freund und Mentor Nikolai Rubinstein hatte es zunächst als wertlos, unspielbar, gar als trivial und vulgär bezeichnet, im Gegensatz zu allen Bewunderern, die das Werk hinreissend fanden.

Kaum hatte Buniatishvili die Bühne betreten, war jedermann gepackt von der Ausstrahlungskraft der Künstlerin als Person und Pianistin. Von den ersten Akkorden an wurde man mitgerissen von ihrer enormen Gestaltungsfreude. Was für ein Farbenreichtum! Das Werk erfuhr in dieser Interpretation faszinierend neue Dimensionen: Einerseits das übersprudelnd Temperamentvolle mit betörender Virtuosität, Fingerfertigkeit und fast lausbübischer Freude, dann das Empfindsame mit überaus sanften Passagen und den berückenden Momenten, in denen sich die Künstlerin alle Zeit gönnte, feinste Pianostellen lange ausklingen zu lassen. Kathia Buniatishvili zog ihr Publikum in einen Rausch höchsten Empfindens. Sie verzauberte, bezirzte, verführte. Ihr wehender Haarschopf und die Verschmelzung mit dem Orchester schienen ihr stets neue Impulse zu verleihen. Dieses nahm die Absichten der Pianistin und des Dirigenten auf, alle Ausführenden wurden zu einer Einheit, strahlten echte Freude aus am gemeinsamen Gestalten. Die mitreissende Interpretation rief echte Begeisterungsstürme wach, die mit einer gefühlvoll ruhigen Zugabe besänftigt wurden.

Tor zur Zukunft
In verschiedener Hinsicht lässt sich dieser Titel des Samstagkonzertes deuten: Der Komponist Edward Elgar versuchte mit seinem Cellokonzert nach dem 1. Weltkrieg verzweifelt, wieder zur Normalität zurückkehren zu können, was ihm leider nicht gelang. Es sollte eine seiner letzten Kompositionen bleiben. Johannes Brahms schloss mit seiner 4. Sinfonie sein symphonisches Schaffen ab, stiess aber im letzten Satz ein weites Tor auf für die musikalische Zukunft. Die Synkopen und Gegenrhythmen brachten Modernität in seine Musik, die später bis zu BartÓk führte.

Das Programm mit den beiden Werken war der Inhalt der Conducting Academy in den Tagen zuvor gewesen und war auch unter der Leitung der jungen Dirigenten bereits erklungen (der AvS hatte in seiner letzten Nummer davon berichtet). Dirigent van Zveden und das Menuhin Festival Orchestra setzten nun dieser grossen Arbeit gleichermassen die Krone auf. Es wäre interessant, von den Musikern zu hören, wie sie die verschiedenen Aufführungen erlebt hatten.

Mit Sol Gabetta erhielt das Cellokonzert e-Moll op. 85 von Edvard Elgar eine Deutung von tiefer Emotionalität, die sowohl Melancholie und Angst als auch Sehnsucht und plötzlich aufflackernde Lebenslust ausdrückte. Die zum festen Bestandteil des Festivals gehörende Solistin – was für ein Glück! – gab dem Werk seine bedeutungsschwere Einfachheit und Schönheit. All ihre Vorzüge konnte sie ausleben: ihr leidenschaftliches Temperament, ihre samtenen, seidenweichen Töne, ihre brillante Technik und flinke Virtuosität. Sol Gabetta schien auch in schwierigsten Passagen ihr Spiel lächelnd zu geniessen, immer in naher Verbindung zum Dirigenten und dem Orchester, welche grossartige Begleiter waren und in alle Tempowechsel und den Gestaltungsreichtum einstimmten. In besonders zarter Schönheit erklang auch die Zugabe, der «Gesang der Vögel» von Pablo Casals zusammen mit dem ganzen Celloregister.

Der Abschied mit Brahms
Johannes Brahms hatte nach der Komposition seiner 4. Sinfonie e-Moll op. 85 tiefe Zweifel an seinem Werk, das in der Steiermark entstanden war, verspürt. «Es schmecke wie das dortige Klima, wo nicht einmal die Kirschen süss und reif würden …»

Spätestens in der Darstellung unter der befeuernden Leitung von Jaap van Zveden wurden diese Zweifel ausgeräumt. Die heute oft gespielte Sinfonie wurde zu einem weiteren Festival-Höhepunkt. Sowohl das Orchester als auch der Dirigent erreichten eine Darstellung von absoluter Weltklasse und zogen die grosse Zuhörerschaft in ihren Bann. Die Gestaltung packte vom eindringlich-drängenden Beginn weg über alle lichtvollen Einwürfe, die archaisch anmutenden Bläserthemen und Celli-Kantilenen des 2. Satzes und das wilde, fast teuflisch anmutende Thema des Allegro giocoso bis hin zum fulminanten, leidenschaftlichen Schlusssatz mit seinen herrlichen Bläserpassagen. Was van Zveden leistete, ist kaum zu überbieten. Der Chef der New Yorker Philharmonie holte alle Finessen aus seinem hiesigen Orchester heraus. Er war eins mit der Sinfonie. Diese lebte auch in seinen Bewegungen – ein Schauspiel für alle, dem Dirigenten zuzusehen. Nach dem fulminanten Schluss mit einer herrlichen Zugabe darf allen Beteiligten ein herzlicher Dank für diese Sternstunden ausgesprochen werden.


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