«Allein die Diskussion bewirkt schon etwas»

  02.05.2022 Gstaad

Die eine ist Co-Präsidentin des Ja-Komitees, die andere Co-Präsidentin des Nein-Komitees: Auf Augenhöhe diskutierten am vergangenen Donnerstag an einer Podiumsdiskussion Flavia Wasserfallen und Susanne Clauss über den Änderungsvorschlag im Transplantationsgesetz, der am 15. Mai zur Abstimmung kommt.

SONJA WOLF
An die 30 Personen verfolgten gespannt die ausgewogene Diskussion im Kirchgemeindehaus. Eine sensible Thematik, die zum Nachdenken anregt: Bundesrat und Parlament wollen bei der Organspende die Widerspruchslösung einführen (siehe Kasten). Das Thema interessiert die Schweizer Bevölkerung – SP-Nationalrätin Flavia Wasserfallen vom Ja-Komitee war alleine letzte Woche an drei verschiedenen Podiumsdiskussionen. Zur Diskussion in Gstaad hatte die evangelisch-reformierte Kirchgemeinde Saanen-Gsteig zusammen mit der römisch-katholischen Kirchgemeinde Gstaad eingeladen.

Grosser Wille, kleiner Ertrag
«Jeden fünften Tag stirbt ein Mensch von der Warteliste für ein Spendeorgan», informierte die Co-Präsidentin des Ja-Komitees. Dies müsse nicht sein, denn bis zu 80 Prozent der Schweizer würden dem Thema Organspenden positiv gegenüberstehen. «Allerdings haben nur 16 Prozent tatsächlich eine Spendekarte.» Bei Fehlen einer Organspendekarte müssten dann die Angehörigen gefragt werden, die kurz nach Bekanntwerden des Todesfalles sowieso unter Schock stehen. Diese würden sich dann zu etwa 60 Prozent gegen die Transplantation entscheiden. «Also werden momentan im Zweifelsfall viel weniger Organe transplantiert, als eigentlich Menschen damit einverstanden gewesen wären», fasste die SP-Nationalrätin Wasserfallen das Dilemma zusammen.

Seit 2007 gibt es in der Schweiz die nationale Transplantationsverordnung. Vorher hatte laut Wasserfallen jeder  Kanton seine eigene Lösung – die meisten hätten aber bereits damals die Widerspruchslösung vorgezogen, die nun also auf nationaler Ebene eingeführt werden soll. Auch würden die meisten Länder in Europa die Widerspruchslösung anwenden, mit ungleich höheren Spendequoten.

Kann die Gesetzgebung die Spendentätigkeit erhöhen?
Die Co-Präsidentin des Nein-Lagers, Susanne Clauss, dagegen glaubt nicht, dass die Gesetzgebung ausschlaggebend sei, sondern vielmehr ein gutes Management, also wie beispielsweise die Angehörigen informiert bzw. betreut werden. Das Tessin etwa hätte in der Vergangenheit zwar die strengste Zustimmungslösung, aber die meisten Spender gehabt. Auch seien ihr keine Statistiken bekannt, die einen eindeutigen Zusammenhang zwischen der Widerspruchslösung und einer höheren Spendentätigkeit belegen. «Meiner Meinung nach werden hier zu grosse Hoffnungen geschürt», so die Hebamme und Pflegefachfrau.

Rechtliche Abklärungen
Vor allem aber hat Susanne Clauss rechtliche Bedenken zur Widerspruchslösung: Jeder Mensch habe von Geburt an das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit. Und sein Grundrecht müsse man nicht extra einfordern, das sollte einfach gegeben sein. «Schweigen ist keine Zustimmung!»

Doch Flavia Wasserfallen beruhigte, dass sich das Bundesgericht mit der Thematik befasst habe. Die Massnahme sei gerechtfertigt, im öffentlichen Interesse, verhältnismässig und mit dem Grundgesetz vereinbar. Sie betonte: «Es gibt keinen Automatismus zur Organentnahme. Die Angehörigen haben immer das letzte Wort.» Im Falle, dass es keine Angehörigen gibt oder diese nicht ausfindig gemacht werden können und keine Willensäusserung vorliegt, ist eine Organentnahme verboten.

Das verworfene Erklärungsmodell
Diskutiert wurde auch das Erklärungsmodell, das von mehreren Gegnern der Widerspruchslösung unterstützt wird: Nach diesem Modell sollten alle Bürgerinnen und Bürger angeschrieben und aufgerufen werden, sich mit der Organspende zu befassen und ihr – falls gewünscht – zuzustimmen. Dies hielt Susanne Clauss für machbar, werden doch zum Beispiel bereits heute alle Frauen ab 50 regelmässig angeschrieben und auf das Mammografie-Programm aufmerksam gemacht. Doch wie sollte die gesamte Bevölkerung erreicht werden? Im Rahmen amtlicher Handlungen wie zum Beispiel bei der Führerscheinausstellung, der Steuererklärung oder auf dem Passamt, wie im Vorfeld bereits von Unterstützern vorgeschlagen? Die amtlichen Stellen hält Flavia Wasserfallen nicht für die geeigneten Stellen für die Aufklärung, eher Hausärzte. Doch auch dort gäbe es ungeklärte Fragen bei der Umsetzung und der Finanzierung. Aus diesen Gründen fand die Erklärungsregelung im Parlament auch keine Mehrheit.

Was macht den grösseren Aufwand?
Generell waren sich die beiden Vertreterinnen nicht einig, welche Methode den grösseren Aufwand zur Folge hätte: die gezielte Anfrage der gesamten Bevölkerung zwecks einer Zustimmung zur Organspende – oder die allgemeine Information der Bevölkerung darüber, dass künftig eine explizite Ablehnung nötig ist, falls man gegen eine Organspende ist. Susanne Clauss glaubt zwar nicht, dass die gesamte Bevölkerung entsprechend informiert werden könne, doch Flavia Wasserfallen bekräftigte, dass die bereits bestehenden Informationskampagnen für viele Jahre noch intensiviert werden würden.

Egal, wie die Abstimmung am 15. Mai ausgeht, beide waren sich jedoch einig: «Allein die aktuelle Diskussion hat bereits bewirkt, dass sich die Bevölkerung mit dem Thema auseinandersetzt.»

Viel Positives aus dem Publikum
Das Angebot am Ende, Fragen zu stellen oder Bemerkungen zu machen, wurde vom Publikum dankbar angenommen. Die meisten Fragen waren praktischer Natur und bezogen sich auf den Vorgang der Transplantation selbst, etwa wie schnell nach dem festgestellten Tod das Organ entnommen wird, wie lange das gespendete Organ im neuen Körper hält oder ob auch ältere Menschen noch als Organspender infrage kommen. Sehr viele bezeichneten sich selbst als Organspendeausweisinhaber oder als Teil der grossen Gruppe, die der Spende gegenüber positiv eingestellt ist, aber noch keine Spendenkarte hat.

Zur Diskussion kam auch die Frage des Organhandels oder generell der Kriminalität, die um Organtransplantationen entstehen könnte. In diesem Punkt wiesen beide Referentinnen entschieden darauf hin, dass dies in der Schweiz kein Thema sei. Es gebe keinen Kommerz mit Organen, eine sehr strenge Reglementierung und hohe Strafen bei Missbrauch. Ausserdem würde es sich um ganz verschiedene Teams an verschiedenen Orten handeln: Ein Team bestimme den Hirntod, ein anderes führe die Gespräche mit den Angehörigen, ein anderes wiederum führe die Transplantation durch.

Ein überzeugtes Abschluss-Statement gab eine Teilnehmerin mit Organspendeausweis: «Unsere Gesellschaft ist so bequem geworden, jeder denkt, irgendwann einmal fülle ich die Spenderkarte aus, und macht es letztendlich nie … Aber wenn jemand genau weiss: Ich möchte nicht spenden, derjenige geht dann sicher sofort.»


ORGANSPENDENZAHLEN 2021 IN DER SCHWEIZ

Bei den Zahlen handelt es sich nur um spendende verstorbene Personen und deren Organe, nicht um Lebendspenden. Durchschnittlich können drei Organe von einer verstorbenen Person für eine Transplantation verwendet werden. Auch kann ein Patient gleichzeitig mehrere Organe erhalten.

Anzahl Organspender:innen 166
Transplantierte Organe 484
Organempfänger:innen 462
Personen auf der Warteliste 1434

QUELLE: BAG


WIDERSPRUCHSLÖSUNG VERSUS ZUSTIMMUNGSLÖSUNG

Wer eine Transplantation benötigt, soll weniger lang auf ein Organ warten müssen. Der Bundesrat und das Parlament haben deshalb bei der Organspende einen Systemwechsel zur Widerspruchslösung vorgeschlagen: Wer nach seinem Tod keine Organe spenden möchte, soll dies neu festhalten müssen. Ohne Widerspruch dürfen nach dem Tod Organe und Gewebe entnommen werden. Bisher gilt das Umgekehrte, nämlich die sogenannte Zustimmungslösung: Eine Spende ist nur möglich, wenn eine Zustimmung vorliegt.

BAG


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