Woyzeck oder wie einer zum Mörder wird

  09.05.2022 Saanen

Mit viel Engagement und zwei Tonnen Material im Gepäck brachte die Theatergruppe des Gymnasiums Interlaken/Gstaad eine beeindruckende Interpretation von Büchners Sozialdrama auf die Bühne. Die Mischung aus Musik, Gesang, Tanz und (Sprach-)Akrobatik zog die Zuschauer in ihren Bann.

SONJA WOLF
Haben sie gewusst, was man alles aus einer Papierleinwand auf der Bühne machen kann? Ich wage zu behaupten: Nein! Wer vergangene Woche der Aufführung von «Woyzeck» des Gymnasiums Interlaken/Gstaad im Ebnit beiwohnte, bekam allerdings eine eindrückliche Vorführung der verschiedenen Verwendungsweisen …

Da kugelten Soldaten aus einem ersten herausgerissenen Loch, ein wenig höher wurde dann fein säuberlich ein Fenster ausgeschnitten und von dort die Geschichte von Woyzeck weitererzählt. Auch sah man an der Papierwand die Projektion der Titel einzelner Szenen («Erbsen!») oder eigens entworfene Scherenschnittfiguren. Woyzecks Geliebte Marie drehte und wiegte sich hinter dem Papier im Tanz, von vorne nur als Schattenbild erkennbar, und am Ende nahm sie noch ein grosses herausgerissenen Stück davon mit auf ihren letzten Spaziergang in den Tod.

Die böse Gesellschaft hoch drei
Die Leinwand stand dabei symbolisch für Woyzecks Welt – ebenso wie sie wird auch Woyzecks Welt immer mehr zerstört. Alles, was er in die Hände nimmt, wird morbid, wird schmutzig, zerfällt.

Woyzeck tötet seine Geliebte am Ende nicht nur, weil sie ihn betrügt, nein, er ist auch Opfer der gesellschaftlichen Umstände: Die Repräsentanten der Oberschicht wie der Hauptmann, der Doktor oder der Tambourmajor behandeln ihn als unwürdig, was bis zur Entmenschlichung reicht. Und seine Beziehung zu Marie war das einzige, was ihm im Leben noch Halt gab.

Auch die entwürdigende Behandlung wurde von den Gymnasiasten hervorragend und originell interpretiert und dargestellt: Sowohl der Hauptmann als auch der Doktor traten in dreifacher Ausführung auf und machten den ohnehin psychisch labilen Woyzeck in monotonen Sprechgesängen fix und fertig. Von je drei mit Gabeln fuchtelnden Doktoren bearbeitet, kam Woyzecks Ohnmacht und Unterlegenheit unbestritten besser zum Ausdruck.

Besser märchenhaft als real-gewalttätig
Aber war der eine der drei Doktoren nicht eben noch in der Rolle der Marie? Gut beobachtet! Theaterpädagoge Matthias Rüttimann, der die Regie führte, erklärte: «Durch die offenkundigen Rollenwechsel zeigen die Schüler deutlich: ‹Ich bin nicht der Tambourmajor, ich spiele nur den Tambourmajor, um zu zeigen, was mit diesem Menschen Woyzeck passiert, wenn wir ihn so bearbeiten und unterdrücken.»

Das erinnert nun doch ein wenig an Brechts Verfremdungseffekt: Wie bei Brechts epischem Theater wurde der Zuschauer auch bei der Woyzeck-Aufführung der Gymnasiasten an keiner Stelle im Stück in einer perfekten Illusion gewiegt, sondern wurde immer wieder ein wenig vom Geschehen distanziert – auch durch eingeflochtene Songs, Akrobatikeinlagen, Leinwandprojektionen, die Bühnenanordnung bis tief ins Publikum hinein oder eine echoartige Wiederholung jedes Satzendes. «Wir zeigen das Stück als eine Art Märchen, mit einer Distanz zur Realität, auch um die Schüler zu schützen vor der ganzen Gewalt, die in dem Stoff enthalten ist», klärt Rüttimann auf.

Ein wenig Wärme
Neben all der Hoffnungslosigkeit, die die Situation von Woyzeck ausstrahlte, gab es doch auch einen Hauch von Zuversicht – etwa durch die eingefügten melodischen Songs von Tom Waits, in denen Woyzeck zum Beispiel von seinen Träumen singt. Auch die warmen Töne des Cellos, welche die Handlung das ganze Stück über begleiteten, liessen die Hoffnung und die menschliche Seite in der sonst traurigen Geschichte zum Vorschein kommen.

Schaurige Glasharfentöne
Apropos Cello: Welche Theatergruppe kann sich als so glücklich schätzen, eine musikalische Livebegleitung in Form von Liedern und Geräuschen ihr eigen zu nennen? Matthias Studer übernahm nicht nur die gefühlvollen Cellolieder, nein, er produzierte auf seinem Cello auch Woyzecks Pulsschläge bei der Messung durch das Ärzteteam oder untermalte mit Paukenschlägen jeden einzelnen Sturz der strauchelnden Soldaten. Und für die Innenwelt von Woyzeck war die Glasharfe das genau passende Ausdrucksinstrument: Die seufzendschaurigen Töne, die einem ein wenig die Härchen auf den Armen zu Berge stehen liessen, kamen immer dann zum Ausdruck, wenn der schizophrene Woyzeck innere Stimmen hörte.

Der Einsatz hat sich gelohnt
Wie kommt ein so beeindruckendes, erfrischend neu interpretiertes und perfekt aufgeführtes Stück zustande? Mit viel Engagement vonseiten der Gymnasiasten und einer sehr professionellen Unterstützung. Neben Theaterpädagoge Rüttimann hat Erika Schnidrig als Deutschlehrerin und Musikerin mit den Schülern die Sprechsequenzen erarbeitet und die Songs eingeübt, Maja Brönnimann, Choreografin und Kostümbildnerin, hat für die stimmigen Kostüme in den sich wiederholenden Farbtönen gesorgt und mit den Jugendlichen tänzerische Ausdrucksformen erarbeitet.

Die Schüler selbst haben monatelang ihre unterrichtsfreien Mittwoche für die Proben aufgebracht, gegen Ende sogar die Wochenenden. Sie haben für die Aufführung in Gstaad zwei Tonnen Material aus Interlaken mitgeschleppt und aufgebaut sowie 150 Stühle im Saal aufgestellt, die erfreulicherweise auch alle besetzt waren. Sogar rund 40 frankofone Schülerinnen und Schüler aus der Partnerschule Lycée-College de la Planta befanden sich im Publikum, die extra mit dem Bus aus Sion angereist sind. Sie wollten es sich nicht nehmen lassen, ihre Kollegen bei der Aufführung in Gstaad zu unterstützen.

In den frühen Morgenstunden von Lauenen nach Interlaken
Sofort nach dem tosenden Applaus war reges Treiben angesagt, um wieder alles Material in die beiden Transporter Richtung Interlaken zu schaffen. Denn das Fakultativfach «Theater» findet im Stammhaus des Gymnasiums statt. Die einzige Schülerin aus der Abteilung Gstaad, die an der Aufführung und den regelmässigen Proben teilgenommen hatte, ist die 15-jährige Melinda Brand aus Lauenen. «Das bedeutete für mich, jeweils an meinem freien Mittwoch um 5.40 Uhr aufzustehen, um an der Theaterprobe am Vormittag in Interlaken teilzunehmen, aber ich habe es total gerne gemacht!»


WOYZECK – WORUM GEHTS?

Um für seine Freundin Marie und das gemeinsame uneheliche Kind aufzukommen, arbeitet Franz Woyzeck bis zum Umfallen. Neben seiner Anstellung als Soldat verdingt er sich bei seinem Hauptmann als Hausbursche und lässt sich von einem skrupellosen Arzt zu Versuchszwecken auf Erbsendiät setzen. Als seine Geliebte mit dem höher gestellten Tambourmajor anbändelt, sieht der an Schizophrenie leidende Woyzeck rot. Innere Stimmen geben ihm ein, Marie zu erstechen, was er auch tut.

Georg Büchner hat den wahren Fall aufgegriffen und ein sozialkritisches Theaterstück daraus gemacht, das er allerdings nicht fertiggestellt hat. Aus den hinterlassenen Szenen hat die Theatergruppe ihre eigene Auswahl getroffen und die Szenen neu interpretiert.

QUELLE: PD

 


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