Die Heuernte als Gefahrenzone für Rehkitze

  16.06.2022 Landwirtschaft, Saanenland, Landwirtschaft

Baustellenlampen, Leintücher und Glitzerfolie in meterhohem Gras schmücken derzeit die Wiesen. Es ist viel weniger ein Schmuck als vielmehr eine lebensrettende Sofortmassnahme der Jägerinnen und Jäger des Jagd- und Wildschutzvereins Saanenland. Damit und durch die aktive Suche können viele Rehkitze vor dem Mähtod bewahrt werden.

JENNY STERCHI
Zwei grosse braune Augen und eine glänzende schwarze Nase sind zu sehen, der schmale Kopf abgelegt, zusammengerollt wie ein flauschiges Handtuch. So liegt das Rehkitz im hüfthohen Gras. Einzig ein paar Halme, die sich am oberen Ende gegeneinander neigen, verraten, dass es an dieser Stelle von der Rehgeiss abgelegt wurde. Sie lässt ihr Jungtier, meist sind es sogar zwei, im Schutz der dicht bewachsenen Weide zurück, während sie sich auf Futtersuche begibt. Das Kitz wartet geduldig auf die Rückkehr der Mutter. Noch nicht mobil liegt es regungslos an dieser Stelle. Perfekt getarnt und gut versteckt ist es für Raubtiere nur schwer zu entdecken. Hinzu kommt, dass ein Rehkitz in den ersten Lebenswochen keinen Eigengeruch entwickelt, von natürlichen Feinden somit nicht gewittert, also «erschnüffelt», werden kann.

Schnell passiert
Gefährlich wird es, wenn die Mähmaschinen auf die Wiese rücken. Die Schneidwerke fressen sich kraftvolldurch die Halme. Für den Landwirt ist das Kitz dabei nicht zu sehen. Es hat keine Chance, zu entkommen. Jedes Jahr geraten Rehkitze in die Mähmaschinen, werden dabei getötet oder schwer verletzt. Im schlimmsten Fall sterben sie unentdeckt qualvoll an den Verletzungen, im besten Fall kommt die Wildhut mit dem Fangschuss zu Hilfe.

Mit der Rehkitzrettung, einer Initiative der Jagdvereine, werden jedes Jahr im Frühsommer zahlreiche Jungtiere gerettet. Auch der Jagd- und Wildschutzverein Saanenland bietet den Landwirten der Region Unterstützung bei der Suche nach Rehkitzen in zu mähenden Weiden und Wiesen.

Kritischer Zeitpunkt
«Heuernte und Hauptsetzzeit (Geburtstermin der meisten Kitze) liegen un glücklicherweise nahe beieinander», so definiert Hegeobmann Daniel Knöri die Notwendigkeit der Rehkitzrettung im Saanenland. Es ist ein kühler Frühsommerabend. Knöri hat zwei Baustellenlampen in den Händen, als er am Rand einer Wiese kurz vor Feutersoey aus dem Auto steigt. Ein junger Mann, wie Knöri in Grün gekleidet, hält zwei weisse bettlakenartige Tücher in den Händen, die jeweils an zwei Zaunpfählen befestigt sind. Es sieht aus wie ein Banner. Jungjäger Sandro Zumbrunnen will aber nicht etwa demonstrieren gehen. Vielmehr sind die beiden Herren mit dem Verblenden in zwei Weiden beschäftigt, die am Tag darauf gemäht werden sollen. «Der Bauer bat mich, in seinen Weiden nach Rehkitzen zu suchen», erklärt Knöri das Vorgehen bei der Rehkitzrettung: «Oder zumindest sicherzustellen, dass sich kein Jungtier im Gras aufhält.» Und so betreten die beiden auf unterschiedlichen Pfaden die Wiese.

Während Zumbrunnen die Pfähle einschlägt und das Banner sich über den Grasspitzen aufspannt, sucht Knöri nach dem perfekten Standort für die Baustellenbeleuchtung. «Das Licht, das jede Stunde für 15 Minuten blinkt, und das Tuch machen die Rehgeiss nervös. Im besten Fall bringt sie ihre zumeist zwei Jungtiere aus der Gefahrenzone, also aus dem hohen Gras heraus an einen anderen Ort.»

Was so präzise und unkompliziert klingt, wird in diesen Tagen zur echten Herausforderung. Bis zu 60 Anrufe erhält der Hegeobmann täglich, wenn das Heu reif ist. Für alle Landwirte ist das Wetter gleich schön und die Prognosen perfekt, um die Wiesen zu mähen und wertvolles Futter zu sichern.

Suche durch Technik vereinfacht
Und so erstaunt es nicht, dass Knöri mit vier weiteren Jägern und einer Jägerin zwei Tage später sehr früh an einer Wiese am Unterbort steht. Wieder wurde er von einem Landwirt um Hilfe gebeten. Die Geiss habe der Bauer gesehen und nun wolle er sicher gehen, dass kein Kitz in der Wiese abgelegt sei. Zwei Weidmänner machen die Drohne startklar. Es ist ein leistungsstarkes Fluggerät mit acht Rotoren und einem Landegestell. Dazu ist sie mit einer Wärmebildkamera ausgestattet. Beide Hightechgeräte konnte der Jagd- und Wildschutzverein Saanenland als gebrauchte Ware erwerben. «Neu ist diese Technik fast nicht zu zahlen», erläutert Daniel Knöri die Anschaffung, die ausschliesslich für die Rehkitzrettung eingesetzt wird. «Ohne Drohne gehen wir mit sechs bis acht Leuten durch die Wiese, durchkämmen strichweise die Fläche. Die Kitze ducken sich, liegen ganz flach am Boden, du läufst Gefahr, drauf zu treten. So gut versteckt sind sie.» Die Drohne reduziert sowohl den personellen als auch den Zeitaufwand.

Der Pilot steuert sie schlaufenförmig über die Wiese, ein zweiter Jäger verfolgt auf dem Monitor die Bildgebung der Kamera. Es ist noch schattig, der Boden noch sehr kühl. Ein grosses Glück, denn sobald die Sonne kommt, wärmen sich Steine und Erdhaufen rasant auf. Es werden immer mehr Wärmepunkte, die aufgesucht werden müssen.

So geschieht es dann auch in einer Weide im Grund. Egal ob Zaunpfahl oder Schachtdeckel, auf dem Monitor ist viel zu sehen. Die drei übrigen Jäger und die Jägerin, via Funk mit dem Drohnenteam verbunden, müssen schnell alle angesagten Punkte absuchen. Rund 15 Minuten bleiben ihnen, um sich durch das hohe Gras navigieren zu lassen. Dann sind die Akkus der Drohne leer, den Rückflug unbedingt mit eingerechnet. Ein Kitz finden sie hier nicht.

Viel zu tun
Das Telefon des Hegeobmanns klingelt unentwegt, während er sich mit seinen Jagdkollegen in Richtung Moosfang bewegt. Auf dieser Talseite ist es zum Glück noch schattig. Sogar der Reif glitzert auf den bereits am Boden liegenden Grashalmen. Der hiesige Bauer hat am Rand bereits einen Streifen angemäht. Auch das hilft mitunter, die Geiss und ihr Jungtier zur Flucht zu bewegen. Die Drohne wird wieder in Startposition gebracht.

Und doch braucht es den Menschen
Bei all der Technik wird der Wert des Fiepens sehr geschätzt. Ein zwischen beiden Daumen eingespannter Grashalm gibt beim Anblasen einen Ton ab, der dem Lockruf des Kitzes zum Verwechseln ähnlich klingt. Und tatsächlich, die Geiss springt nervös durchs hohe Gras. Zu sehr verunsichert zieht sie sich zurück. Für die Jäger gilt es, keine Zeit zu verlieren. Zwei Wärmepunkte müssen erkundet werden.

Und in der Tat liegt ein Kitz wie ein kleines Bündel versteckt im Gras. Es bewegt sich keinen Millimeter. Es kann noch nicht stehen, ist noch nicht lange auf der Welt. Unweit entfernt entdecken sie das zweite. Mit einer dicken Schicht Gras dazwischen hält es Jungjäger Mario Kunz in seinen Händen. Schon etwas aktiver streckt es seine dünnen Beine und fiept so laut, dass es sehr weit zu hören ist. Über Funk meldet sich das Drohnenteam: «Das ist wohl gerade gar nicht zufrieden mit euch, was?!» Und auch die Rehgeiss springt erstaunlich nahe heran, kehrt dann aber doch wieder um.

Sorgsam unter zwei Holzkisten in der benachbarten Wiese, die nicht gemäht wird, platziert, harren beide Kitze aus. «Wichtig ist, dass wir sie nicht zu sichtbar ablegen», erklärt Daniel Knöri: «Wir wollen sie kein zweites Mal berühren müssen. Wenn die Kiste weggenommen wird, sollten sie immer noch gut versteckt liegen. Das bietet ihnen Schutz vor Greifvögeln und Füchsen, bis die Mutter wieder bei ihnen ist. Und das dauert in der Regel nicht lange.» Sobald die Fläche gemäht ist, werden die Kisten entfernt. Die Erleichterung, beide Tiere gefunden zu haben, liegt wie ein Schönwetterwölkchen über der kleinen Jägergruppe.

Grenzen gesetzt
Gern würden sie noch viel mehr Wiesen an diesem Vormittag absuchen, aber die Sonne steht schon zu hoch, die Drohne kann nicht länger eingesetzt werden. Für grossflächiges Absuchen und die Vorabsuche sind sie an diesem Tag einfach zu wenige. Aber die Anfragen mähwilliger Landwirte reisst nicht ab. Ziemlich frustriert müssen sie jedem Bauern, der jetzt noch seinen Wunsch nach Rehkitzrettung mitteilt, eine Absage erteilen. «Wir können uns nicht zerteilen und arbeiten sollte ich heute auch noch», tönt es bei allen gleich. Und das Dilemma wird deutlich. Die Jagd ist kein Beruf, es ist Freizeitbeschäftigung. «Nein», interveniert Knöri: «Es ist eine Leidenschaft, es ist wie ein Feuer in dir, mit dem du aber eben nicht dein Geld verdienen wirst.» Und so bleiben eine Reihe von Wiesen an diesem Tag übrig, die von den Jägern nicht abgesucht werden können. «Natürlich wünsche ich mir, dass sich von unseren über 100 Vereinsmitgliedern mehr an der Rehkitzrettung beteiligen würden, als es jetzt der Fall ist», bekennt Hegeobmann Knöri in dem Moment. «Aber es ist Freitag und alle sind bei der Arbeit und nicht einfach abrufbar», relativiert der erfahrene Weidmann sofort.

Die Verantwortung, alles Mögliche zum Schutz der Rehkitze zu unternehmen, liege beim Landwirt. Es sei aber im Interesse der Jägerschaft, das Wild eben nicht nur zu jagen, sondern durch das Jahr zu hegen. Und das gebe der Rehkitzrettung das Fundament und solle als Unterstützung für die Landwirte vonseiten der Jäger zu verstehen sein. «Es hat für mich sehr viel mit Würde gegenüber allen Lebewesen zu tun.»

Ethik
«Wenn ich mich von einem Tier ernähren möchte, muss ich dafür sorgen, dass es zuvor ein gutes Leben hat, unabhängig davon, ob es das in einem Stall oder in freier Wildbahn verbringt.» Manchmal macht Daniel Knöri und seinen Jagdkollegen die Ignoranz, die ihnen begegnet, ziemlich zu schaffen. Konfrontiert mit dem scheinbar unvereinbaren Widerspruch zwischen Rehkitzrettung und dem Erlegen von Rehwild während der Jagd, stehen sie der Frage mancher unbekümmerter Landwirte gegenüber: «Wofür rettet ihr die Kitze, wenn ihr sie anderthalb Jahre später dann doch umbringt?» Weiter überlegt, drängt sich die Antwort auf: Es geht bei der Rehkitzrettung darum, den Bestand dieser Tiere sicherzustellen und dem Tier und seinen Verhaltensweisen würdevoll zu begegnen. «Mit dem Mähen der Wiesen greift der Mensch in das natürliche Habitat des Rehs ein. Es kann doch nicht in unserem Interesse liegen, das Töten oder Verletzen der Tiere zu billigen, nur weil sie wild leben.»


KLEINES LEXIKON DER REHKITZRETTUNG

Setzzeit: Geburtstermin beim Rehwild, Hauptsetzzeit ist Mitte April bis Mitte Juli, die Hälfte der Rehkitze ist bis Ende Mai gesetzt.
Geruchlos: Rehkitze verfügen in den ersten zwei bis drei Lebenswochen über keinen Eigengeruch. Darum sollten sie bei der Rettung nie mit blossen Händen berührt werden. Der Geruch des Menschen würde an ihnen haften und die Mutter würde es wegen des Fremdgeruchs nicht mehr annehmen.
Vorabsuche: Jäger und Helfer laufen in sicherer Entfernung vor dem Mähwerk her und suchen die Wiese strichweise ab.
Fiepen: Imitieren des Lockrufes des Kitzes, mit dem es die Mutter auf sich aufmerksam macht, mittels eines breiten Grashalms.
Verblenden: Sanftes Vertreiben der Rehgeiss und ihrer Jungtiere durch optische Mittel (Lampen, Tücher, glänzende Materialien), zum Teil werden auch Duftstoffe (künstlich erzeugter Raubtiergeruch als Spray) angebracht, aber auch der Geruch des Menschen bewegt Geiss und Kitze zur Flucht; es bietet keine absolute Sicherheit, dass sich auf besagter Fläche kein Jungtier mehr befindet.

PD

 


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