Mit ein bisschen Verspätung zum Sieg

  06.10.2022

Der Kandidat Bohdan Lutz überzeugte an der zweiten Ausgabe der Alberto Lysy International Violin Competition auf ganzer Linie. Dies trotz einem stürmischen Einstieg in seine finale Darbietung, denn um ein Haar hätte er seine Auftrittszeit verpasst.

ÇETIN KÖKSAL/JOCELYNE PAGE
Der Puls ist hoch, das Herz rast, Schweiss auf der Stirn, der Atem ist kurz: Begleiterscheinungen, die bei einer Teilnahme an einem Wettkampf auftauchen können. Sie kommen nicht unerwartet, damit rechnet man. Beim Geiger Bohdan Lutz war der Auslöser dafür jedoch ein ganz anderer. «Wo bist du? Du solltest seit fünf Minuten auf der Bühne stehen!», rief Silvia Simionescu, Präsidentin der Association Rencontres Musicales Camerata Lysy, ins Handy. «Ich fing an zu rennen, so schnell ich konnte. In fünf Minuten war ich da», erinnert sich der Kandidat nach dem Wettkampf. Ein Schockmoment, von dem er sich anscheinend schnell erholt hatte – oder musste. Doch beginnen wir von vorne.

16-mal die gleiche Komposition
Die erste Runde der Alberto Lysy International Violin Competition begann am Freitagmorgen und dauerte mit Pausen bis am Abend. Jeder der 16 Kandidaten musste während rund 25 Minuten ein Solorezital, bestehend aus der ersten Ernest-Bloch-Suite für Sologeige und einer vorgegebenen Auswahl aus dem reichen Werk für Sologeige von Johann Sebastian Bach, vortragen. Verständlicherweise sind diese ersten Ausscheidungsrunden an Wettbewerben immer die anstrengendsten Tage für die Jury, musste sie sich doch 16-mal denselben Komponisten Bloch anhören. Obwohl dies so natürlich nicht stimmt: 16 sehr talentierte junge Geigerinnen und Geiger interpretieren auch dasselbe Stück sehr verschieden. Jeder fühlt, spürt und liest die Musik entsprechend seinem individuellen Wesen, was das Zuhören wiederum spannend macht.

Die Kunst des richtigen Zuhörens
Im Unterschied zu gewöhnlichen Konzerten bieten Wettbewerbe eine direkte Vergleichsmöglichkeit. Sogar ein Jurymitglied bemerkte, dass ihm Ernest Bloch auch 16-mal hintereinander nicht langweilig wurde, und das will etwas heissen. Jurymitglieder hören vom ersten bis zum letzten Kandidaten konzentriert, bewusst und umfassend zu, damit sie möglichst objektiv benoten können.

Acht junge Künstlerinnen und Künstler schnitten dabei besser als die anderen ab und qualifizierten sich für den Halbfinal am Samstag. Auf dem Programm standen eine Sonate von Franz Schubert oder Ludwig van Beethoven und ein virtuoses Stück von Eugène Ysaÿe oder Camille Saint-Saëns. Bereits jetzt zeichneten sich Tendenzen und eine gewisse Vorahnung ab, wer es in den Final schaffen könnte. Jedoch durfte man ebenso überrascht werden.

Kein abschliessendes Urteil
Kandidaten, welche in der ersten Runde überzeugten, taten dies etwas weniger beim einen oder anderen Stück im Halbfinal. Auch umgekehrt war zu beobachten, wie Kandidaten plötzlich aufblühten und sich verbesserten. Für das Warum gibt es viele Möglichkeiten, die oftmals schwer zu benennen sind. Selbst erfahrene Pädagogen aus der Jury machen diese Erfahrung immer wieder an Wettbewerben. Zu wenig geübt, ein schlechter Tag, der Komponist liegt einem nicht oder Probleme mit dem Instrument sind nur ein paar wenige Gründe. Wenn man bedenkt, dass alle Kandidaten mit sechs konzertreifen, anspruchsvollen Werken der Geigenliteratur antreten mussten, dann wird vorstellbar, wie schnell etwas «schiefgehen» kann.

Deshalb sollte man die Ergebnisse solcher Wettbewerbe nie als abschliessendes Urteil über das Können der Künstler nehmen. Die Ergebnisse widerspiegeln ihre Leistung genau in diesem Moment und sind so gesehen «nur» eine Momentaufnahme.

Vier im Final
Simon Zhu und Wassili Wohlgemuth aus Deutschland, Mon-Fu Lee Hsu aus Spanien und Bohdan Lutz aus der Ukraine: Vier Halbfinalisten hatten offensichtlich einen guten Moment und schafften es ins Finale, wo sie am Sonntag jeweils einen ersten Satz aus dem dritten, vierten oder fünften Violinkonzert von Mozart spielten, bevor sie ein ganzes, grosses Geigenkonzert vortrugen. Drei Finalisten wählten dasjenige von Pjotr Iljitsch Tschaikowski, einer dasjenige von Johannes Brahms.

«Die Inkarnation von Alberto Lysy»
Zurück zum Schreckmoment: Bohdan Lutz war gefesselt von der Bergwelt im Saanenland. Vor einem grossen Auftritt versuche er stets, zur Ruhe zu kommen. Oftmals gehe er auch noch schlafen, damit sich die Hände ausruhen und entspannen können. «Dieses Mal wanderte ich herum, genoss die frische Luft und schaute mir die schönen Berge an. Gstaad ist wunderschön.» Als der Anruf kam, dass er seine Auftrittszeit verpasst habe, sei er einfach losgerannt. «Ich kam an, hatte fünf Minuten Zeit, um mich einzuspielen und trat auf», erzählte Lutz mit grossen Augen. «Meine Vorbereitung war komplett ruiniert.»

Das Adrenalin muss allerdings mitgespielt haben, denn Bohdan Lutz triumphierte. Er beeindruckte alle im Saal mit seinem technischen Können, seinem bereits jetzt ausgeprägten Sinn für Musikalität und seiner natürlichen Gabe, die Zuhörer zu fesseln. «Nach seinem Auftritt bestanden keine Zweifel, dass er gewinnen wird. Es war einfach unglaublich. Er ist erst 17 Jahre alt und beherrscht das Spiel der Violine, denn er spielt voller Emotionen. Er ist die Inkarnation von Alberto Lysy», so das Fazit von Präsidentin Simionescu, die einst eine Schülerin von Lysy war.

Bohdan Lutz erhielt als Preis eine Meistergeige von Jean-Baptiste Vuillaume, die er während vier Jahren spielen darf. Zusätzlich kann er an einem Konzert am Gstaad New Year Music Festival 2022/23 auftreten. Und als wär das nicht genug, hat er auch noch den Publikumspreis gewonnen: Er wird vom Gstaad Menuhin Festival 2023 in der Reihe «Jeunes Etoiles» präsentiert.

Die Nächstplatzierten Simon Zhu, Wassili Wohlgemuth und Mon-Fu Lee Hsu durften – nach einer langen Jury-Diskussion – drei zweite Preise in Empfang nehmen. Sie gewannen einen Barbetrag und einen Konzertauftritt beim Festival «Le bois qui chante». Julia Smirnova erhielt zudem eine Anerkennung für ihre spielerische Leistung am Wettkampf.

Einen Preis verdient hätten eigentlich auch die beiden Pianisten Federico Bosco und François Killian, welche den Kandidaten pianistisch zur Seite standen. Wer den Schwierigkeitsgrad dieser professionellen Klavierbegleitung testen möchte, der sei herzlich eingeladen, sich an einem dieser für Klavier umgeschriebenen Orchesterparte zu versuchen.

Neue Freundschaften
Diesen Geigenwettbewerb zu gewinnen, bedeute ihm sehr viel, sagte Bohdan Lutz am Ende der Preisverleihung. Der Stil von Alberto Lysy habe ihn geprägt, zumal auch sein Lehrer einst ein Schüler von Lysy war. Es sei aber nicht nur eine Ehre gewesen, ein Teil davon zu sein. «Ich habe die Atmosphäre sehr genossen. Ich habe neue Freundschaften geschlossen und das ist am Ende ein weiterer Preis, der enorm viel Wert hat.» Präsidentin Silvia Simionescu pflichtet dem Sieger bei. «Die diesjährige Ausgabe war aussergewöhnlich. Fairplay wurde gross geschrieben, die Stimmung war enorm freundschaftlich.» Des Weiteren sei das Niveau der Kandidaten hoch gewesen, die Aufgabe für die Jury entsprechend schwer. Rund 60 Zuschauerinnen und Zuschauer hätten während den drei Tagen die Darbietungen verfolgt. «Es war ein besonderer Anlass.»


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