Probiers mal mit Gelassenheit

  31.10.2022 Gstaad

Eine tiefe Gelassenheit verspürte man als Besucher der Gstaader Messe beim Betrachten der Ausstellungsstücke am diesjährigen Lehrlingswettbewerb. Alle Werke waren dem Thema entsprechend «gelassen», den ersten Platz belegten schliesslich ein Traktor und ein Jasstisch.

SONJA WOLF
«Ein Traktor?», mag sich der aufmerksame Ausstellungsbesuchende gefragt haben – und einen Moment lang die Verbindung zum Thema Gelassenheit gesucht haben. Mit einer guten Prise Humor nimmt die Gewinnerin des Einzelwettbewerbs Christine Kaysen die Frage direkt selbst auf: «Obwohl die jüngsten Abstimmungen rund ums Thema Landwirtschaft eine gewisse Portion Gelassenheit erforderten, hat ‹ds Traktöri› nichts mit diesen am Hut», beginnt sie die Beschreibung auf der Dokumentationskarte, die jede:r Teilnehmende seinem kleinen Kunstwerk beilegen musste.

Vielmehr habe die auszubildende Schreinerin im Wohnzimmer einer Freundin ein Holzschaukelmotorrad gesehen. Und dieses ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Einen Traktor als Kinderspielzeug wollte sie herstellen, denn Gelassenheit zeigt sich für die ausgebildete Grundschullehrerin par excellence in Kindern, die vertieft in ihrer Fantasie-Spielwelt stecken.

Ein Traktöri mit pädagogischem Innenleben
Im Moment befindet sich die 36-Jährige im vierten Lehrjahr bei der Brand-Ryter Schreinerei und hat der Schule zunächst einmal den Rücken gekehrt. Dennoch kommt der pädagogische Hintergrund auch in ihrem Siegerstück zum Vorschein. Denn wenn das Kind die Motorhaube öffnet, kann es beschriftete Musterstücke aus Fichte, Eiche, Esche, Nussbaum und Ahorn finden und erraten, aus welcher Holzart welches Element des Traktors hergestellt wurde. Und überhaupt waren es ihre Schüler, die Christine Kaysen den Motivationsschub gaben: «Die Kinder haben mehr Skills im Basteln als ich. Wie können die Kleinen besser mit einer Säge umgehen als ich? Das kann ja nicht sein!», lacht sie in Erinnerung an ihre Zeit als Lehrerin. Nun, nach 80 Stunden Tüfteln, Sägen und Zusammenbauen am Traktöri wird sie sich sicher nicht mehr in dieser unterlegenen Lage wiederfinden.

Ein Jasstisch wird zum branchenübergreifenden Erfolg
Noch ein wenig länger als die Traktorkreatorin waren Lionel von Grünigen und Cedric Brand mit ihrem «Jasstischli» beschäftigt. «Etwa 120 Stunden Arbeit stecken da drin», berichtet der Schreinerlehrling Cedric, der ebenso wie Christine Kaysen bei Brand-Ryter seine Lehre macht. Nach der Rangverkündigung stellen sich die beiden nicht ohne Stolz noch einmal an ihr Meisterwerk zum Fotografieren. «Wir sind schon seit der Schule Kollegen, dann haben sich unsere Wege ein wenig getrennt. Jetzt waren wir aber durch die Projektarbeit wieder viel zusammen», berichtet Cedric. In der diesjährigen Ausgabe waren sie das einzige disziplinübergreifende Team des Wettbewerbs: Schreiner Cedric hat zunächst den Tisch produziert mit Schränkchen, in denen man Orangensaft oder Bier verstauen kann, und platzsparenden Regalen für Spielkarten oder andere kleine Dinge. Denn laut Dokumentationsblatt der beiden soll möglichst nichts den Platz auf dem Tisch wegnehmen. Und Elektroinstallateur Lionel von Grünigen von ISP Electro Solutions ergänzt: «Die elektronischen Teile habe ich dann bei uns in der Firma vorproduziert, zu unserem Tisch in die Schreinerei gebracht und einmontiert.» Das Ergebnis: der preisgekrönte, äusserst gelassene Jasstisch, dessen Tischoberfläche dank Elektronachwuchs Lionel durch LED-Lichter in verschiedenen Farben leuchtet und aus Bluetooth-Lautsprechern für gechillte Musik sorgt.

Handwerk und viel mehr
Auch Valerie Ludi, die seit 2016 zusammen mit Jasmin Käser und Marc Walker im Organisationskomitee wirkt, freut sich, wenn die jungen Leute wie bei Lionel und Cedric branchenübergreifend zusammenarbeiten. «Das eröffnet viel mehr Möglichkeiten!» Genauso freut sie sich, dass dieses Jahr wieder neben den Handwerksberufen eine Reihe anderer Berufsleute mitgemacht haben wie Drogistinnen, Bäcker oder Augenoptiker. «Neu haben wir dieses Jahr auch den Hotelierverein eingeladen mitzumachen», ergänzt sie. Mit Erfolg: Auch eine Gruppe von Hotelfachleuten war im Wettbewerb dabei. Und obwohl sich die Handwerksberufe traditionell eher beteiligen und auch eher gute Plätze belegen, kam dieses Jahr im Einzelwettbewerb die Drogistin Sarah Vorderegger mit ihrer Kreation «Gelassenheit in der Tasse» – einer kunstvoll präsentierten Teemischung — auf den zweiten Platz.

Die menschlichen Momente
Aber Verlierer gibt es am Lehrlingswettbewerb sowieso keine. Alle Kreationen der 38 Lehrenden, die sich dieses Jahr in 17 Einzelteilnehmende und 9 Teams aufteilten, zeigten grosses Engagement. Da baumelte eine Hängematte, sprudelte symbolisch ein Brunnen oder lud ein Schachtisch zu einer Partie ein. Die Umsetzung des Mottos «Gelassenheit» liess die Besucher schon bei blossem Betrachten träumen und relaxen. «In unserem Alltag gibt es so viel Hektik, Ungeduld und Überforderung. Beim Schaffen und im Haushalt versucht man, das Beste zu geben und sozial engagiert sollte man auch noch sein», so Valerie Ludi zur Rangverkündigung. «Um all die Herausforderungen zu meistern, braucht es Gelassenheit. Man kann im Leben nicht alles perfekt machen. Das haben wir den Lehrenden mitgeben wollen.» Und das scheint dem Organisationskomitee gelungen zu sein. «Das Schönste ist immer die Zusammenkunft mit den Lehrlingen beim Brainstorming im Vorfeld oder wenn die Lehrlinge dann vor Stolz strahlen, wenn sie ihre Werke zum Aufbauen an die Messe bringen», freut sich Valerie Ludi über die sehr menschlichen Momente des Wettbewerbs. Sie hofft, dass von der aktuellen jungen Generation nach Lehrabschluss auch der eine oder die andere bei der Organisation des Wettbewerbs mitwirken möchte.

 


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