Sich beim «Teetrinken» nicht die Finger verbrennen

  01.12.2022 Gesellschaft

Wissenschaftliche Studien zeigen, dass die Gefahr sexueller Gewalt bei Jugendlichen vorwiegend von Gleichaltrigen ausgeht. Es braucht deshalb Präventionsmassnahmen, damit sie lernen, was beidseitiges Einverständnis bedeutet. In der interaktiven Ausstellung «Love Limits» diskutieren die 14- bis 16-Jährigen aus dem Saanenland über die schönen und schwierigen Seiten der Liebe – und erfahren, was eine Tasse Tee damit zu tun hat.

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Eine Tasse Tee und ein Strichmännchen erscheinen auf der Leinwand. Aus dem Hintergrund hört man eine freundliche männliche Stimme sagen: «Wenn du Schwierigkeiten mit dem Begriff ‹Einverständnis› hast, stell dir vor, statt Sex anzuzetteln, würdest du jemandem eine Tasse Tee machen.» Verschiedene Beispiele folgen: Eine Person, die einer Tasse Tee zustimmt und wiederum eine, die zwar zuerst Ja gesagt hat, aber dann doch ihre Meinung ändert. Eine, die zwar die vergangenen Male Lust auf Tee hatte, aber nun nicht mehr will. Und eine, die bewusstlos ist, die definitiv keinen Tee will und es auch nicht sagen kann – eben weil sie bewusstlos ist. «Zwinge niemanden, den Tee zu trinken und sei nicht angepisst, wenn jemand mal keinen Tee möchte.» Es ist ein einfach illustriertes, humorvolles, überspitztes Video mit einer sehr ernsten und wichtigen Botschaft: «Nur Ja heisst Ja.»

Das Video (siehe QR-Code am Ende des Artikels) ist der Einstieg in die interaktive Wanderausstellung «Love Limits» von Kinderschutz Schweiz, die die Offene Kinder- und Jugendarbeit Saanenland-Obersimmental (Juga) und die Schulsozialarbeit Saanenland (SSA) gemietet haben. In der vergangenen Woche haben sie während vier Tagen 14- bis 16-Jährige aus dem Saanenland im Jugendzentrum Oeyetli in Saanen empfangen, um mit ihnen gemeinsam über die Liebe, Grenzen und Gewalt zu sprechen. «Es ist das Folgeprojekt nach den ersten beiden Präventionsprogrammen, die im Saanenland und Obersimmental angeboten werden», erklärt Evelyne Moser von der Schulsozialarbeit Saanenland. Dies ist zum einen der Parcours «Mein Körper gehört mir» von Kinderschutz Schweiz für die erste und zweite Primarstufe, bei dem die Kinder erstmals mit dem Thema sexuelle Gewalt in Kontakt kommen (AvS vom 3. Dezember 2021). Er wurde schon drei Mal durchgeführt. Zum anderen begann einst die Juga mit den Präventionsworkshops «Die Zyklus-Show» für Mädchen und «Agenten auf dem Weg» für Jungen. Heute führen die Primarschulen diese Workshops regelmässig durch. «Das ist sehr positiv», beurteilt Rosa Reiter von der Jugendarbeit Obersimmental-Saanenland. Die Jugendlichen lernen dabei ihren Körper und die Pubertät näher kennen. «Unser Ziel ist es, die zwei Parcours von Kinderschutz Schweiz alle drei Jahre anzubieten, damit jedes Kind im Obersimmental und Saanenland mindestens einmal jeden Parcours absolvieren kann und damit alle den gleichen Informationsstand haben», so Rosa Reiter.

Wissen bietet Sicherheit
Prävention ist dringend notwendig und mit Wissen ist man bekanntlich auf der sicheren Seite. «Seit der Pandemie verzeichnet das Bundesamt für Statistik mehr Gewaltstraftaten von Jugendlichen. Der Zeitpunkt passt», so Reiter. Hinzukommt, dass mehrere Jugendliche in einer gleichaltrigen Beziehung sexuelle und psychische Gewalt erleben – der prozentuale Anteil Betroffener stimmt nachdenklich (siehe Kasten).

Die Ausstellung «Love Limits» verfolgt das Ziel, sexuelle Übergriffe unter Jugendlichen zu verhindern. Die Moderatorinnen führen die Saaner Jugend durch sechs Stationen, bei denen sie mit ihnen über Beziehungen, sexuelle Grenzverletzungen und Gewalt diskutieren. Bei einem Posten erhalten sie verschiedene Aussagen, beispielsweise: «Meine Freundin Emma verlangt von mir, dass ich am Handy meinen Standort freigebe. Sie will immer wissen, wo ich bin.» Nun müssen sie zuordnen, ob sie die beschriebene Situation «okay» oder «nicht okay» finden. Bei einer weiteren Station erhalten sie Tablets, um interaktiv über Gefühle bei Trennungsschmerz zu diskutieren und um zu lernen, wie man mit unangenehmen Gefühlen umgeht. Bei einem Puzzle lernen die Jugendlichen, welche Rechte und Verbote es bezüglich Sexualität und Gewalt gibt: Gewalttaten werden den jeweiligen Verboten zugeordnet. «Lou (15) schickt ihrem Freund Nacktbilder von sich. Tim stellt die Bilder in den Klassenchat der 8b» – macht sich Tim der Weiterverbreitung von Kinderpornografie strafbar? Ja, nach Jugendstrafrecht macht er sich strafbar.

Rosa Reiter und Evelyne Moser sind von der Ausstellung begeistert: «Zum einen finden wir die Realisierung des Projekts gelungen, da Kinderschutz Schweiz die Ausstellung gemeinsam mit Jugendlichen erarbeitet hat – die Sprache ist angepasst, die Machart digital, für Jugendliche ansprechend, die Themen sind aktuell und alle Geschlechtsidentitäten und auch Menschen mit Beeinträchtigung werden miteinbezogen.» Zum anderen loben sie den realitätsnahen Bezug, den die Ausstellung zu Themen und Ereignissen herstellt. «Bei der ersten Sichtung des Materials musste ich schon leer schlucken, denn die beschriebenen Gewaltszenen werden unverblümt dargestellt», erzählt Reiter. Aber das sei der richtige Ansatz: Die Beschreibung von Gewalt dürfe nicht beschönigend oder abschwächend sein.

Umso mehr hat sich die Sozialarbeiterin gefreut, die Aufgeklärtheit der Jugendlichen zu sehen: «Die hat wenig erschüttert. Die meisten Gruppen haben sachlich und ernst die Themen diskutiert. Das zu sehen, stimmte mich positiv.» Evelyne Moser stimmt ihr zu. «Einen massgeblichen Beitrag dazu leisten bestimmt auch die vorherigen Präventionsprogramme.» Zudem seien sie enorm dankbar, dass die Schüler:innen der Oberstufe das JFZ Oeyetli während den Unterrichtsstunden besuchen durften und die Zusammenarbeit mit den Lehrerinnen und Lehrern so gut verlaufen sei.

Geschützter Raum zwingend
Damit die Ausstellung auch Erfolg hat, ist eine offene Diskussionskultur und ein geschützter Raum zwingend. Keine Lehrkräfte, keine Eltern, keine Medien: Nur die Moderatorin bzw. der Moderator begleitet die Gruppe, hält sich aber auch zurück, damit die Jugendlichen ihr Wissen und ihre Meinung untereinander teilen und Dinge ausdiskutieren können. «In der Einführung informieren wir sie auch über unsere Schweigepflicht, dass wir nichts weitererzählen und das Besprochene nicht den Kreis verlässt», sagt Evelyne Moser. Wenn es jedoch konkrete Hinweise gibt, dass eine Person gefährdet ist oder Opfer einer Gewalttat wurde, haben die Verantwortlichen eine Meldepflicht.

Zuhören ist der Schlüssel
Befindet sich ein Kind in der Pubertät, ist dies nicht nur für den Jugendlichen selbst oftmals herausfordernd, sondern auch für die Eltern. Die Jugend- und Schulsozialarbeit hat sie deshalb zu einem Elternabend eingeladen, an dem sie die Ausstellungen besichtigen, Posten selbst erleben und Fragen stellen konnten. «Das Interesse war gross. Einige haben das Gespräch gesucht, andere haben sich gegenseitig ausgetauscht», erzählt Rosa Reiter. Es gehe am Ende nicht darum, den Eltern Erziehungstipps zu geben, im Gegenteil. «Wir sind da, um zuzuhören und weiterzuhelfen, wenn Ratlosigkeit auftritt.» Und am Ende sei dies der beste Weg, um Missstände zu bemerken, so Moser: «Stets gut zuhören und da sein.»

«Beidseitiges Einverständnis – so einfach wie Tee» – das Video: youtu.be/2ovcQgIN5G4


ZAHLEN UND FAKTEN

Bei einer Forschung im Kanton Zürich im Jahr 2015 kam heraus, dass jeder 14. Junge (sieben Prozent) und jedes sechste Mädchen (16 Prozent) innerhalb einer Beziehung sexuelle Gewalt erfahren hat; psychische Gewalt haben 66 Prozent der Jungen und 77 Prozent der Mädchen erlebt. Sexuelle Ausbeutung durch Körperkontakt – von ungewollten Berührungen bis hin zu Vergewaltigungen – erleben acht Prozent der männlichen Jugendlichen, bei den Mädchen sind es 22 Prozent. Der prozentuale Anteil sexueller Ausbeutung über elektronische Medien liegt höher: Davon sind 20 Prozent der Jungen, 40 Prozent der Mädchen betroffen. Darunter gehören Erpressung für Nacktbilder, Nötigung, pornografisches Material anzusehen, Erniedrigung mit sexuellen Inhalten und die Aufnahmen und Verbreitung von intimen Aufnahmen, von denen die betroffene Person nichts weiss.

Wer ist besonders gefährdet, Opfer von sexueller Gewalt zu werden? Im Bericht von 2020 des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG) heisst es, dass besonders Jugendliche gefährdet sind, die zu Hause einen harschen, rauen Umgangston erleben, Erfahrungen mit Misshandlungen oder Verwahrlosung machten, häusliche Gewalt erlebt haben, in einem gewaltbereiten Freundeskreis sind, Alkohol und Drogen konsumieren, eine körperliche Behinderung haben und viel Zeit im Internet verbringen. Mehr oder weniger die gleichen Eigenschaften tragen die Personen, die gefährdet sind, Täterin oder Täter zu werden. Aggressive Konfliktlösungsmuster gehören auch dazu, weshalb eine frühe Prävention die Lösung sein können. Dabei erlernen die Jugendlichen unter anderem Konfliktlösungsstrategien und Selbstkontrolle.

Wem Gewalt angetan wurde, braucht Hilfe, doch muss sich die Person jemandem anvertrauen. Laut Kinderschutz Schweiz tun dies gerade mal 42 Prozent der Jungen und 57 Prozent der Mädchen – etwa die Hälfte der Betroffenen spricht mit niemanden darüber. Von denen, die darüber sprechen, vertrauen sich die meisten ihren Freundinnen und Freunden an, dann folgen Familienangehörige und zuletzt Lehrkräfte, Fachstellen und Polizei.

QUELLE: KINDERSCHUTZ SCHWEIZ


HILFE ODER RATSCHLÄGE GESUCHT?

Die Mitarbeiter:innen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit Saanenland-Obersimmental (JUGA) und der Schulsozialarbeit Saanenland (SSA) sind telefonisch für Kinder und Jugendliche erreichbar, die Hilfe benötigen, Ratschläge brauchen oder sich etwas von der
Seele reden möchten. Die Juga ist auch über den anonymen
Sorgen-Chat auf ihrer Homepage erreichbar:
www.jugasaanen.ch.

Ein weiteres Angebot ist die kostenlose Hotline 147: Unter der Nummer ist Tag und Nacht jemand erreichbar. Jugendliche, aber auch Eltern, die Rat brauchen, können dort anrufen und sich beraten lassen. Sie hören aber auch einfach nur zu, wenn man über irgendetwas reden möchte. Jede und jeder Jugendliche hat diese Nummer per Visitenkarte am Parcours «Love Limits» als Schlüsselanhänger erhalten.

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