Geschäftsmodell Neutralität

  24.06.2022

Vermutlich 1959 betraten eines schönen Tages mein Vater und ich den neu gebauten Ausstellungssaal des Zürcher Kunsthauses. Neben dem Eingang stand und steht heute noch die Büste von Emil Bührle. «Der hat den Deutschen im Krieg Kanonen verkauft und drum dürfen wir jetzt hier die schönen Bilder anschauen …» meinte der Vater grimmig.

Emil Georg Bührle, der Industrielle und Kunstsammler, erhielt oder kaufte sich schon 1937 die Schweizer Staatsbürgerschaft und hatte mithin – während mein Vater von 1939 bis 1945 in der Gz Mitr Kp IV/264 den Aktivdienst an der Grenze absolvierte – die schweizerische Neutralität perfekt als Geschäftsmodell umgesetzt.

In der heutigen Diskussion um den «Bührle Neubau» des Kunsthauses – wo seit letztem Oktober die «Sammlung E. G. Bührle» gezeigt wird – schlug Anfang Jahr der Zürcher Stadtrat Richard Wolff vor, am Eingang zum Neubau eine Bührle-Kanone aufzustellen. «Dann würde die Finanzierung der Sammlung aus Kriegsgewinnen gleich sichtbar», begründete Wolff seinen genialen Vorschlag.

Seit der Gründung der Schweizerischen Eidgenossenschaft und bis heute wird die Neutralität in den Bundesverfassungen von 1848, 1874 und 1999 jeweils sinngemäss mit demselben Satz umschrieben: «Bundesversammlung und Bundesrat sind gehalten, die notwendigen Massnahmen zu treffen, um die äussere Sicherheit, Unabhängigkeit und Neutralität der Schweiz zu wahren.»

Neutralität – ein magisches Wort. Neutral sein bedeutet zunächst «unbeteiligt, unparteiisch, als Staat sich nicht an Kriegen oder militärischen Bündnissen beteiligend». Aktuell operieren wir in der Schweiz gemäss Bundespräsident Ignazio Cassis mit der «kooperativen Neutralität», aber sie war auch schon «aktiv» (Micheline Calmy-Rey), oder heute – im Rahmen der offiziellen Aussenpolitik – ist sie «flexibel» gegenüber dem starren Neutralitätsrecht. In der Zeitspanne vor dem Ersten bis nach dem Zweiten Weltkrieg sprach man von «integraler Neutralität»: Die Schweiz blieb den internationalen Organisationen wie dem Europarat oder der UNO fern. Zwischendurch aber trat die neutrale Schweiz dem Völkerbund bei, ohne sich an dessen militärischen Aktionen zu beteiligen – dies war dann die «differenzielle Neutralität». Erst im zweiten Anlauf und über eine Volksinitiative gelang am 10. September 2002 der Beitritt unseres Landes zur UNO.

«Die dauernde Neutralität ist ein Grundsatz der schweizerischen Aussenpolitik. Sie trägt bei zum Frieden und zur Sicherheit in Europa und jenseits der Grenzen Europas. Sie dient der Sicherung der Unabhängigkeit unseres Landes und der Unverletzlichkeit des Staatsgebiets. In Übereinstimmung mit dem Neutralitätsrecht nimmt die Schweiz nicht an Kriegen zwischen anderen Staaten teil.» Das ist der heutige Erkenntnisstand des Eidgenössichen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA). Selten genug spricht man es offiziell und offen aus, aber wenigstens wissenschaftlich belegt ist die Tatsache, dass die neutrale (d.h. soviel wie unschuldige) Schweiz jeweils in Kriegszeiten besonders mit dem Kriegsmaterialhandel und über die eigene Rüstungsindustrie grosse Gewinne erwirtschaftete (vgl. Peter Hug, «Schweizer Rüstungsindustrie und Kriegsmaterialhandel zur Zeit des Nationalsozialismus», Chronos Verlag Zürich, 2002). Nun wollen aber die SVP und ihr Doyen Christoph Blocher eine Volksinitiative lancieren, um die Schweizer Neutralität zu bewahren und um künftig zu verhindern, dass sich die Schweiz den wirtschaftlichen EU-Sanktionen anschliesst. Das wäre dann wieder die «integrale Neutralität».

Noch im Juli 2009 bestätigte Christoph Blocher dem «St. Galler Tagblatt»: «Die Neutralität ist ein Geschäftsmodell». Damals umschrieb er deren Sinn so: «Die Neutralitätspolitik verlangt auch, dass sich ein neutraler Staat mit Parteinahme gegen andere Staaten zurückhält. Dies gilt für den Staat und seine Regierung, nicht für die Bürger.»

Selbst in Kriegszeiten sollen demnach Schweizerbürger wie Bührle oder Blocher in aller Ruhe ihren Geschäften nachgehen können.

OSWALD SIGG

JOURNALIST, EHEMALIGER BUNDESRATSSPRECHER [email protected]


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