RANDNOTIZ

  19.08.2022 , Kolumne, Internes

Als wärs gestern gewesen

JENNY STERCHI
Ich habe den Geruch von Butterbroten und geöltem Holzboden noch in der Nase. Und dann die sorgsam aufgereihten Buchstabenkarten – das ganze Alphabet hing in fehlerfreier Schreibschrift über der Wandtafel. Ein – wie ich fand – viel zu grosses Lineal und gleich daneben das gigantische Geodreieck beeindruckten und beängstigten mich zugleich. Erster Schultag. Meine Schulanfang-Mitstreiter, gehüllt in ganz wunderbare, aber nicht gerade bequeme Kleider, schienen die Sprache kurzfristig verloren zu haben. Ich erinnere mich gut an die überwältigende Stille, die unsere Klassenlehrerin Frau Ullrich mit dezenter Stimme durchbrach – überhaupt nicht einschüchternd, vielmehr freundlich und dennoch bestimmt. Keiner von den «Achtenkrutschern» – ein wunderbarer sächsischer Ausdruck für Schulanfänger –, die mit mir im Schulzimmer mit riesigen Fenstern sassen, wäre auch nur im Ansatz auf die Idee gekommen, ungefragt etwas zu sagen oder gar zu widersprechen. Sie, Frau Ullrich, wusste einfach zu viel. Sich mit ihr in irgendeiner Weise anzulegen, ergab überhaupt keinen Sinn. Sie wusste, wie der Hase läuft, kannte den Laden. Und darauf fusste das Verhältnis zwischen uns Kindern und der Lehrerin. Meine Schulzeit war ein echter Glücksfall und manchmal meine ich, die Matura eben erst abgelegt zu haben. Und der Gedanke ist nicht im Entferntesten mit dem Gefühl verbunden: «Gott sei dank, es ist vorbei.» Natürlich bin ich nicht in jede Unterrichtsstunde hineingetanzt und besonders in den Naturwissenschaften hielt ich Doppelstunden für echte Herausforderungen. Dieses besagte Verhältnis hatte einen Namen: Respekt. Klar begannen wir in der Oberstufe, Aussagen in Frage zu stellen und eigene Argumente zu formulieren. Pubertäre Grosskotzerei mitunter. Und während die einen Lehrkräfte diese Fähigkeit aus uns herauskitzelten, waren andere schwer beunruhigt dadurch. Aber der Respekt blieb, die ganzen zwölf Schuljahre und über die Abschlussfeier hinaus. Sogar beim Klassentreffen im letzten Jahr – meine Güte, sind die alle alt geworden – war er allgegenwärtig. Ich wünsche jedem ABC-Schützen, der am letzten Montag seine Schulkarriere lanciert hat, dass der Respekt ein treuer Begleiter wird. Respekt gegenüber Mitschülern, Lehrkräften, dem Abwart. Aber auch Respekt, den er selbst erfährt. Und ich schaue noch ein wenig die Fotos vom ersten Schultag an: Ich, vordergründig zahnlos, mit einer enorm grossen Schultüte, die – bis zum Rand mit Süsskram gefüllt – nicht ohne Grund «Zuckertüte» hiess. Als wärs gestern gewesen.

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