Die dunklen Seiten des Selbstbestimmungsrechts der Völker

  27.04.2018 Leserbeitrag

Die Kriminalisierung katalanischer Separatistenführer durch Justiz und Politik ist kein gutes Zeichen für den Zustand der spanischen Demokratie. Politische Probleme müssen politisch gelöst werden und nicht strafrechtlich. Ohne ernsthafte Gespräche über die Ausgestaltung von Autonomie, Selbstverwaltung und Föderalisierung geht es nicht. Richtig heikel wird es immer dann, wenn das Ziel von Separatisten die Sezession ist, also der vollständige Austritt aus dem Staatsverband und die Gründung eines neuen, unabhängigen Staates. Dann müssen erst recht ausgefeilte Entscheidmechanismen auf allen Ebenen gefunden werden – ein dornenvoller, jahre- bis jahrzehntelanger Prozess. Mit einseitigen Volksabstimmungen und Unabhängigkeitserklärungen ist es nicht getan.

Man sollte sich jedoch von der Vorstellung lösen, dass es jemals vollkommen gerechte Grenzziehungen geben könnte. Der Separatismus, wenn er nicht in rechtlich und politisch allseits akzeptierte Verfahren und Bahnen gelenkt werden kann, birgt die Gefahr unkontrollierter Entwicklungen bis hin zu Bürgerkriegen. Eine der Grundideen der europäischen Integration ist es ja gerade, die Bedeutung der Staatsgrenzen generell zu relativieren, sie durchlässiger zu gestalten und möglicherweise ganz zu überwinden. Insofern sind der militante regionale Separatismus und seine nationalistische Ideologie ein Rückschritt.

Natürlich ist das Selbstbestimmungsrecht der Völker ein hohes Gut, sogar eines der Grundrechte des Völkerrechts. Es ist als Schutz vor Fremdherrschaft, vor Unterdrückung sprachlicher, kultureller und ethnischer Minderheiten gedacht. Werden Volksgruppen massiv diskriminiert, muss es für sie einen Weg zu Autonomie oder gar Eigenstaatlichkeit geben. Aber das Selbstbestimmungsrecht der Völker hat auch seine dunklen Seiten. Wer dieses Prinzip in nationalistischer Weise verabsolutiert, wer ethnisch-kulturell «reine» Gebiete oder Staaten schaffen will, beschwört eine Katastrophe herauf.

Ein Exempel liefert die Entwicklung unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg. Als vor hundert Jahren die drei grossen multiethnischen Monarchien Russlands, Österreich-Ungarns und des Osmanischen Reiches zusammenbrachen, bildete die Vision der Selbstbestimmung der Völker den Rahmen für eine neue Ordnung, die auf Freiheit und Demokratie basierte. Doch es kam anders. In den fünf Jahren nach dem offiziellen Kriegsende im November 1918 verloren in ethnischen Auseinandersetzungen und Bürgerkriegen über vier Millionen Menschen ihr Leben. Weitere Millionen wurden aus ihrer Heimat vertrieben.

Die Idee der nationalen Selbstbestimmung entpuppte sich somit in den von vielen unterschiedlichen Völkern bewohnten Gebieten des Balkans sowie Ost- und Mitteleuropas als reine Katastrophe. Denn in all den neugegründeten kleinen Staaten lebten starke nationale Minderheiten. Sie alle forderten ebenfalls Autonomie, einen eigenen Staat oder den Anschluss an einen anderen Staat. Keiner der Nachfolgestaaten beispielsweise der Habsburgermonarchie war ethnisch homogen.

Der Katalonien-Konflikt birgt wohl nicht ein derart dramatisches Konfliktpotenzial. Aufhorchen lässt allerdings, dass führende Kreise der Separatisten ziemlich expansionistisch denken. Sie bezeichnen etwa einen Teil der französischen Pyrenäen als «Nordkatalonien», die beiden spanischen Provinzen Valencia und die Balearen werden zum «historischen Katalonien» gezählt. Das Unabhängigkeitsstreben Kataloniens könnte also durchaus zum Ausgangspunkt weiterer Territorialkonflikte führen, wenn sie nicht rechtzeitig entschärft werden. Die Schweiz hat eine reiche Erfahrung bei der Lösung von Minderheitenproblemen. Auch der Jurakonflikt war für beide Seiten ein schmerzlicher Prozess. Doch über die Dauer haben sich komplizierte, aber kreative und von allen Beteiligten akzeptierte Verfahrensregeln durchgesetzt. Das muss auch auf der Iberischen Halbinsel gelingen.

JÜRG MÜLLER
[email protected]


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