Die Kette

  29.06.2018 Leserbeitrag

Ein durchschnittliches Velo setzt sich aus zirka 2000 einzelnen Teilen und Teilchen zusammen. Allein in der Kette reihen sich plus/minus 125 Kettenglieder aneinander. Alle diese Teile und Teilchen am Velo sind aufeinander angewiesen. Geht eines davon kaputt, können die andern Teile ihre Funktion nicht mehr richtig oder nur noch unter erschwerten Bedingungen erfüllen, und die Benützer des Velos bekommen gewisse Probleme. Und ganz sicher vom Velo steigen müssen sie dann, wenn ein einzelnes Kettenglied kaputtgeht.

Eine Kette ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied, sagt das bekannte Sprichwort und meint damit nicht nur die Velokette. Es geht in diesem Sprichwort vor allem um den Zusammenhalt einer Volksgemeinschaft und um die Zusammenarbeit in Gruppen. Die Velokette bestätigt aber auf ihre Art und Weise die Aussage dieses Sprichworts und erinnert daran, dass ein Volk nur dann eine gute Zukunft hat, wenn darin alle einen sicheren Platz haben – also auch die Stillen, die Schwachen, die Beeinträchtigten, die Armen und Leidenden und auch die Tiere und Pflanzen. Auch eine Velokette kann ihren Dienst ja nur leisten, wenn all ihre Glieder regelmässig gewartet, gereinigt und geschmiert werden, und eben nicht nur ein paar besonders begünstigte und privilegierte.

Jedes Glied einer Velokette nimmt übrigens teil an einer echten und einmaligen «Kettenreaktion». Jedes Glied hilft nämlich mit, den Drehmoment, der durch die Tretkraft des Fahrers erzeugt wird, auf das Antriebsrad zu übertragen. Jedes Glied gibt die Kraft aber sofort ans nächste Glied weiter, ohne noch schnell und heimlich ein wenig davon für sich selbst abzuzweigen und sich selbst zu bereichern. Könnte diese Selbstlosigkeit auch auf die Kette der Menschen übertragen werden, dann bliebe die Hoffnung nach mehr Gerechtigkeit in der Welt nicht mehr nur Wunschdenken. Aber obwohl der Mensch frei geboren ist, liegt er halt doch überall in Ketten gefangen (nach Jean-Jacques Rousseau). Vor allem sind gewisse Leute immer wieder in der Verlockung gefangen, bei allem, was sie machen, möglichst viel profitieren zu können. Der Mensch ist darum auch das einzige Glied in der irdischen Lebenskette, dem es möglich ist, die Hoffnung nach mehr Gerechtigkeit und letztlich auch alles Leben auf dieser Erde zu zerstören.

Lange Velotouren bieten aber eine gute Gelegenheit, sich auch noch andere Gedanken zu machen; zum Beispiel über das eigene vergangene, gegenwärtige und zukünftige Leben. Diese persönlichen Gedanken lassen sich am Ende einer Tour jeweils zu wertvollen Gedankenketten, vielleicht sogar zu Perlenketten, zusammenfügen. Doch das höchste der Gefühle und die grösste Freude empfindet man auf dem Velosattel – trotz Gesässschmerzen und Müdigkeit – vor allem dann, wenn sich jeder besondere Augenblick und jeder schöne Ausblick in die Natur sofort in eine Perle der Erinnerung verwandelt. Diese Perlen, aufgefädelt auf der Kette des Lebens, machen die Lebenskette Tritt für Tritt ein bisschen kostbarer. Und wenn sich am Ende einer Velo saison dann auch noch die vielen erlebnisreichen Velotouren aneinandergereiht haben, dann trägt man erst recht eine wunderbare Perlenkette der Erinnerungen im Herzen.

ROBERT SCHNEITER


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