Grenzen der Heilung

  29.06.2018 Kirche

PETER KLOPFENSTEIN

Manchmal werden uns Geschichten nach folgendem Muster berichtet: Da war eine Person schwer krank, beeinträchtigt oder drogenabhängig. Sie hat alles versucht, ist von Arzt zu Arzt gegangen, aber keine Therapie hat geholfen. Zum Schluss wurde sie in eine christliche Gemeinschaft aufgenommen, wo sie sich bekehrt und wo man für sie gebetet oder ihr die Hände aufgelegt hat. Nun ist sie schon längere Zeit frei von Beschwerden.

Solche Geschichten, wenn sie denn zutreffen, sind eine grosse Ausnahme. Was aber ist mit all jenen, bei denen einfach nichts geholfen hat, kein Arzt, keine Bekehrung, kein Beten, kein Segnen? Oder jenen, die rückfällig werden? Die ihr Leben lang an einer Beeinträchtigung leiden?

Für gewisse Leute ist dies gar noch Anlass, auf die Kranken herabzuschauen. Sie hätten eben nicht den richtigen Glauben …

Warum heilte Jesus nicht alle?
Folgende existenzielle Frage kann uns dabei stets von Neuem umtreiben: Jesus ist doch der Sohn Gottes. Warum heilte er trotzdem nicht alle Kranken, denen er begegnete? Warum machte er, der doch göttliche Vollmacht besass, nicht alles gut auf Erden?

Eines der ersten Wunder, das von Jesus berichtet wird, ist eine Heilung. In Kafarnaum heilte er die Schwiegermutter des Petrus, die mit hohem Fieber im Bett lag, gemäss den ersten drei Evangelien (Markus, Matthäus und Lukas). Am selben Ort folgten daraufhin viele weitere Heilungen: «Am Abend aber, als die Sonne untergegangen war, brachten sie alle Kranken und Besessenen zu ihm. Und die ganze Stadt war vor der Tür versammelt. Und er heilte viele, die an mancherlei Krankheiten litten, und trieb viele Dämonen aus.» So wird uns im Markusevangelium weiter berichtet (Kapitel 1,32–34).

Keine Kraft mehr
Jesus heilt tatsächlich. Und Jesus heilt viele. Aber Jesus heilt nicht alle. Zuhause in seiner Heimatstadt, in Nazaret, verlässt ihn sogar die Kraft «und er konnte dort kein einziges Wunder tun, ausser dass er einigen Kranken die Hand auflegte und sie heilte.» (Markus 6,5)

Manchmal muss er sich auch zurückziehen, weil es ihm ganz einfach zu viele sind, die geheilt werden wollen, berichten uns die Evangelien: «Und Jesus zog sich an den See zurück, und eine grosse Menschenmenge aus Galiläa folgte (…) Und er sagte zu seinen Jüngern, man möge ein Boot für ihn bereithalten, damit man ihn im Gedränge nicht erdrücke. Denn er heilte so viele, dass alle, die von Leiden geplagt waren, sich auf ihn stürzten, um ihn zu berühren.» (Markus 3, 7–10)

Jesus ist selber verletzlich
Wir erkennen daraus: Jesus ist ein Heiler mit klaren Grenzen. Er kann ganz einfach nicht alle heilen. Er kommt nicht wie der grosse Siegesheld daher und verkündet so etwas Grosssprecherisches wie: «Jetzt ist alles gut, ich bin ja da.»

Wenn wir die Evangelien genau und mit dem Blick für das versteckte Detail lesen, sehen wir: Jesus begegnet uns als Mensch, der selber verletzlich ist. So kann er Mitleid und Erbarmen spüren. Ja, er weint sogar! Er zieht sich zurück, weil er nicht mehr kann. Aber immer wieder wagt er auch den Kontakt, gerade zu den Kranken.

Wenn ich länger über das Thema der Wunder und Heilungen nachdenke, stellt sich mir meine Ausgangsfrage vom Kopf auf die Füsse: Eigentlich will ich nicht unbedingt wissen, warum Jesus viele und nicht alle geheilt hatte. Eigentlich will ich doch wissen, warum Jesus trotzdem der Messias – der Retter der Menschen, der von Gott kommt – sein kann. Er hatte doch klare Grenzen seines Vermögens.

Von Gott verlassen
Diese Frage hat auch schon die Evangelien beschäftigt. Als er unschuldig zur Todesstrafe verurteilt am Kreuz hängt, wird er von den Leuten folgendermassen verspottet: «Andere hat er gerettet, er rette jetzt sich selbst, wenn er doch der Gesalbte Gottes ist, der Auserwählte» (Lukas 23,35). Nach dem Markus- und dem Matthäus-Evangelium stirbt Jesus mit dem Aufschrei aus Psalm 22 auf den Lippen: «Eloi, eloi, lema sabachtani!», das heisst übersetzt: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?»

Was für uns übrigbleibt, ist keine allmächtige Kirche, allmächtiger Pharmakonzern oder allmächtige Therapie, sondern ganz schlicht und einfach ein menschlicher Messias, der von Gott kommt.

Jesus war ein Mensch, der geliebt hat. Er hat klare Grenzen erfahren. Am Schluss seines kurzen öffentlichen Wirkens hat er sogar die Todesstrafe erlitten für seine ganz menschliche Art, der Messias zu sein.

Die wirkliche Kraft von Christus
Seine Auferweckung vom Tod durch Gott – die Evangelien berichten vom leeren Grab am frühen Ostermorgen – bestätigt die Kraft und Richtigkeit, die diesem Leben innewohnt. Es lässt manchen menschlichen Wunsch nach Heilung offen. Aber es weckt starke und begründete Hoffnungen auf Menschlichkeit im Umgang miteinander, gerade auch heute und hier.

Der Apostel Paulus, der später dem Evangelium von Jesus Christus den Weg in die weite Welt geebnet hat, war selber ein gebrechlicher Mensch. Er schreibt an die Gemeinde in Korinth, dass er deswegen lange mit Gott gerungen hat und schliesslich zur Einsicht gekommen ist, die er in die berühmten Worte gebunden hat: Gott «hat zu mir gesagt: ‹Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.›» (2. Korinther 12,9)


HEIL IN DER BIBEL

Im heutigen Sprachgebrauch ist das Wort Heil weitestgehend auf religiöse Zusammenhänge beschränkt. Im Alten Testament sind es vor allem die Wörter «Gerechtigkeit» (zedaqa) und «Frieden» (schalom), mit denen ausgedrückt wird, was im Deutschen mit Heil übersetzt werden kann.

Die Herkunft des deutschen Wortes weist auf, was im Bedeutungskern auch für das Hebräische gilt: «Heil» kommt von «heilen» in der doppelten Bedeutung von «gesund machen» und «gesund werden». Heilsein meint dabei mehr als physisches Gesundsein, nämlich ganz, vollständig und unversehrt sein. «Heil» wird für die Wiedergabe verschiedener hebräischer Wörter verwendet, von denen besonders die hebräische Wurzel schlm (wie in schalom) das ganzheitliche Unversehrtsein bezeichnet.

Im Neuen Testament ist es das Wort soteria, das neben «Rettung» mit «Heil» übersetzt wird. Betont die Übersetzung «Rettung» den Aspekt des Ereignisses, so die Übersetzung «Heil» den Aspekt dessen, was dem Ereignis vorausgeht und ihm folgt: Auf das, was heil, gesund und integer macht, können Menschen nur warten, weil es allem vorausgeht, was sie sich selber geben können.
(Zürcher Bibel)


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote