Eine Koryphäe tritt ab

  29.03.2019 Gstaad

PORTRÄT Ernst Voegeli ist in der Schweizer Pferdeszene eine Koryphäe. Von der Kavallerie her kommend setzte er sich für alle Disziplinen ein. In den letzten 17 Jahren hat er das Reitzentrum Gstaad geführt. Jetzt macht der 73-Jährige einen Schritt zurück.

BLANCA BURRI
Um es vorweg zu nehmen: Ganz freiwillig geht Ernst Voegeli nicht, viel zu stark ist er mit dem Reitzentrum Gstaad verbunden. «Aber ich bin in einem Alter, in dem gesundheitlich viel passieren kann. Deshalb ist es mehr als vernünftig, wenn ich jetzt jüngeren Leutern Platz mache.»

Den Gasthof verfehlt
Wenn der Pferdenarr erzählt, ist es, wie wenn ein Bilderbuch geöffnet wird. Seine sonore Stimme produziert keine Worte, sondern Bilder. So auch, wenn er von seinem ersten, mit vielen Strapazen verbundenen Ritt nach Gstaad erzählt. Der Vater war Fuhrhalter in Unterseen (Interlaken) und weil es dort im Winter wenig Arbeit gab, lieh er seine Kutschenpferde an einen befreundeten Fuhrhalter in Gstaad aus.

Im Dezember 1956 benötigte dieser ein zusätzliches Schlittenpferd. Kurzerhand erhielt der elfjährige Ernst den Auftrag, das Pferd nach Gstaad zu reiten. Er musste die fast 70 km an einem Tag bewältigen. In Spiez folgte er dem Wegweiser nach Zweisimmen, die Mittagspause sollte er in Därstetten einlegen, wo ein Landwirt das Pferd füttern würde. Er fand das vorgemerkte Restaurant Lochmatte nicht und fragte deshalb im nächsten Dorf danach. Ein freundlicher Mann sagte: «Mit der Lochmatte meinte dein Vater wohl den Bären.» Also kehrte der Junge um und fand sowohl den Bauern wie auch den Gasthof. «Während ich ass, sass mir der Bauer grimmig gegenüber und rauchte eine Pfeife, daran erinnere ich mich noch genau.» Nach der kurzen Rast stieg er wieder auf und ritt weiter Richtung Saanenland.

Wie weit ist es bloss noch?
Als es bald zu regnen begann, bat er einen Einheimischen in Boltigen um einen Mantel. Dieser war bald so durchnässt, dass er vor Zweisimmen bei einem Bauern einen zweiten Mantel erbat, mit dem dieser den Kühler seines Traktors abgedeckt hatte. Dick eingepackt, kam er nicht ohne Hilfe auf den braunen Freiberger Wallach namens Dragon. Deshalb musste er vom Brückenwagen hinter dem Traktor aufsteigen.

In Schönried, bei Dunkelheit und Schneefall angekommen, schlug er nach Anweisung seines Vaters den Weg Richtung Gruben ein. Es war gegen 18 Uhr, als er endlich in Gstaad eintraf, wobei ihm dieser letzte Abschnitt länger vorkam als der ganze Weg.

Endlich in Gstaad
Entkräftet kam er ins belebte Gstaad, wo ihn ein Polizist ansprach und sagte: «Weiter hinten wartet dein Vater.» Diese Aussage wühlte ihn auf und es schossen Tränen in seine Augen. Wie konnte es der Vater wagen, ihn alleine auf diese lange Reise zu schicken und am Abend am selben Ort auf ihn zu warten. «Der Vater hätte das Pferd doch selbst bringen können!», ging es ihm durch den Kopf. Es stellte sich heraus, dass der befreundete Fuhrhalter und nicht sein Vater auf ihn wartete.

Durch einen starken Wärmeeinbruch und Schneeschmelze über Neujahr konnten die über ein Dutzend Pferde nicht vor die Schlitten gespannt werden, wodurch Ernst zwei Wochen in Gstaad diese Pferde täglich bewegen und reiten musste.

Rückkehr ins Saanenland
Um die Jahrtausendwende verschlug es den «Pferdeflüsterer» wiederum ins Saanenland. Eine Lauenerin fragte ihn, ihr beim Anreiten ihres jungen Pferdes zu helfen. Gerne sagte er zu, begab sich dadurch alle zwei Wochen nach Lauenen und half bei der Grundausbildung des Pferdes. Er vertiefte gleichzeitig die Kontakte zur hiesigen Pferdeszene. «Der damalige Pächter der alten Reithalle hat das nicht gerne gesehen», meint er schmunzelnd.

Hineingerutscht
Als die Reithalle kurze Zeit später zur Pacht ausgeschrieben war, habe ihn Ruth Hung-von Siebenthal, damals Präsidentin des Reit- und Fahrvereins Gstaad-Saanenland, gefragt, ihr bei der Auswahl eines neuen Pächters zu helfen. «Weil es keinen valablen Kandidaten gab, half ich beim Versorgen der vier noch verbliebenen Pferde.» So sei er allmählich, neben seinen Betrieben in Unterseen und im Freilichtmuseum Ballenberg, in das Geschehen der Reithalle Gstaad hineingewachsen. Seine erste Mitarbeiterin war eine auszubildende Bereiterin aus Gstaad, die sich sehr schnell aktiv im Betrieb eingab. Nach und nach wuchs der Pferdebestand und auch das Mitarbeiterteam.

Neue Klientel
Als Lara Livanos zu reiten begann, zog langsam eine neue Klientel ein. Schon längere Zeit waren Pferdebesitzer/innen und Einheimische wie Marcel Bach auf der Suche nach einem neuen, geeigneten Standort, war doch die alte Anlage in einem desolaten und baufälligen Zustand.

Nach verschiedenen Standortevaluationen war man sich einig: Der Platz der alten Reithalle soll auch der neue sein. Grund war die Idee, die rechte Saanenuferseite in das Projekt miteinzubeziehen. Nach dieser Grundsteinlegung gingen Marcel Bach und weitere auf die Suche nach den nötigen finanziellen Mitteln. Nach einer langen Planungsphase mit vielen Hürden und Enttäuschungen konnte das Projekt in die Ausführung gehen. Dies nachdem die Gemeindeversammlung die Überbauungsordnung genehmigt hatte. Dafür ist Ernst Voegeli noch heute dankbar. Die guten alten Zeiten der hervorragenden Pferdezucht von Arbeitstieren im Simmental und Saanenland war seit langem Geschichte. «Die Gegend war während Jahrzenten keine Hochburg mehr für das Pferdewesen.» Vor 200 Jahren aber wusste sogar Napoleon die Region zu schätzen. «Er hat fast alle Pferde für seine Feldzüge aufgekauft», weiss Voegeli.

Bau in Windeseile
Der Rück- und Neubau der gesamten Reitanlage fand innerhalb von nur zehn Monaten statt. In dieser Zeit waren alle Pferde auf dem heutigen Aussenreitplatz in einem Zelt und die Mitarbeiter in Containern untergebracht. «Ich hatte zuerst Respekt vor der Auswirkung der MOB-Bahnlinie entlang der Weiden, aber nach wenigen Tagen gehörte die Bahn zum Alltag der Pferde.» Bereits im Dezember 2010, vor dem grossen Wintereinbruch, zog das ganze Team und die Tiere in die neuen Räumlichkeiten mit Reithalle, Reiterstübli, Boxen und Wohnungen für die Mitarbeiter sowie einem grossen Theorieraum um.

Abschiedsfest gegen seinen Willen
Vor kurzem fand in der Reithalle ein Abschiedsfest für den Grandseigneur des Pferdesportes statt. Innerlich hat er sich gegen das Fest, das im Geheimen organisiert wurde, und vielleicht auch gegen den Abschied von Gstaad gewehrt. «Ich habe sehr viel Herzblut in die Reitanlage Gstaad gesteckt», betont er. Deshalb seien die Feierlichkeiten für ihn zutiefst berührend gewesen. «Irgendwie war es, als ginge ich an meine eigene Abdankungsfeier», meint er nachdenklich. Das grösste Ziel von Ernst Voegeli ist, dass die Qualität im Betrieb auf gleich hohem Niveau weitergeführt wird. Zudem soll der Unterhalt ernst genommen werden. «Ich möchte, dass es auch weiterhin sauber und neuwertig aussieht.» Deshalb übergibt er seinem Nachfolger Horst Becker ein Unterhaltskonzept und ein Strategiepapier. Sehr wichtig ist ihm auch die Aus- und Weiterbildung der Mitarbeiter und der Schulpferde. Einen Wehrmutstropfen gibt es: Ernst Voegeli konnte das Reitzentrum nicht so nah an die Bevölkerung heranbringen, wie er sich das gewünscht hätte.

«Ich stehe dazu»
Wegen einem seiner Charakterzüge musste sich Ernst Voegeli oft verteidigen: «Ich habe einen patriarchalischen Führungsstil und dazu stehe ich auch.» Schliesslich übernehme er auch die volle Verantwortung, wenn etwas schiefläuft. «Mit dieser Art habe ich mir nicht nur Freunde gemacht, sondern auch Kunden verloren», gesteht der Reitlehrer.

«Auch wenn man patriarchalisch führt, braucht man ab und zu ein Lob.» Das habe er in all den Jahren in Gstaad eher vermisst. Bereits beim Aufrichtefest habe ihn Marcel Bach gebeten, einen guten Nachfolger zu suchen. Damals war Ernst Voegeli knapp 65 Jahre alt, aber nicht für den Ruhestand gemacht. «Meine Frau und ich haben keine Kinder. Die Pferde sind mein Hobby, mein Sport und meine Arbeit, wofür ich lebenslang eine grosse Leidenschaft entwickelt habe. Wie wir wissen, ist Leidenschaft aus den zwei Wortteilen ‹Leiden› und ‹schafft› zusammengesetzt, das heisst also auch, dass ich oft leide.» Trotzdem scheint es jetzt Zeit zu sein, einen Schritt zurückzumachen und sich statt auf drei, nur noch auf zwei Betriebe zu konzentrieren. Ernst Voegeli will sich aber die Zeit nehmen, weiterhin für seine Kunden in Gstaad da zu sein. «Das Einverständnis des neuen Pächters habe ich.»

Natalia Akus bleibt
Für die Reitsportfreunde gibt es mit dem Pächterwechsel im April einige Neuerungen. Ein Gesicht bleibt aber: Die Reitlehrerin Natalia Akus wird als einzige der bisherigen Angestellten dem Reitzentrum Gstaad und dem deutschen Horst Becker treu bleiben. «Einige Pferdebesitzer haben ihre eignen Pferdepfleger, weshalb es trotz allem wenige neue Gesichter gibt», meint sie. Sie ist sicher, dass sich unter der neuen Leitung viel ändern wird. «Die schweizerische und die deutsche Kultur unterscheiden sich deutlich voneinander», sinniert sie. Sie freue sich aber auch, mit ihrem eigenen Pferd Renja, sie hat es von Ernst Voegeli als Treue- und Abschiedsgeschenk zum Geburtstag erhalten, weiterhin an Springturnieren teilzunehmen.


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