Mutterkühe und Wanderer

  30.07.2019 Gstaad

«Mutterkühe sind auch nur Mamis» Man hört hin und wieder von Zwischenfällen zwischen Wandernden und Mutterkühen auf den Weiden. Trotz Signalisation und Verhaltensregeln geraten Mensch und Tier manchmal aneinander. Was gilt es zu beachten?

KEREM S. MAURER
«Kuh tötet nach dem Kalbern 68-jährige Frau» («Blick»2010), «Wanderin von Mutterkuh tödlich verletzt» («agrarheute» 2017), «Italienischer Wanderer am Berninapass von Mutterkuh schwer verletzt» (1815.ch 2019, Quelle SDA). Solche Schlagzeilen sind zwar selten, aber es gibt sie und es ist offenbar eine Tatsache, dass mehr Menschen von Kühen getötet werden, als von Wölfen. Dies belegen die Zahlen der Beratungsstelle für Unfallverhütung in der Landwirtschaft (BUL). Diese bestätigt auf Anfrage, dass ihnen im Jahr 2018 zwei tödliche Unfälle in Zusammenhang mit Tieren gemeldet wurden. Eine zunehmende Tendenz solcher Zwischenfälle sei allerdings nicht festzustellen. Laut BUL wurden in den letzten zehn Jahren 25 tödliche Unfälle registriert und in den letzten zwanzig Jahren deren 53. Dominique Thiévent, Sicherheitsingenieurin EKAS bei der BUL, weist darauf hin, dass es sich bei diesen Zahlen um allgemeine Unfälle mit involvierten Tieren handle. Es gehe nicht nur um Unfälle auf Weiden mit Mutterkühen. Auch bestehe keine Meldepflicht für Unfälle mit Tieren, was eine höhere Dunkelziffer vermuten lasse. Ebenso wenig liessen sich die Zwischenfälle direkt Kantonen oder Regionen zuweisen. Dominique Thiévent: «Gefahrenpotenzial haben Wanderwege, welche durch das Weidegebiet führen – egal ob im Taloder Alpgebiet.» Zwischenfälle im Saanenland seien bislang keine registriert worden. Auch Daniel Flückiger von Mutterkuh Schweiz kennt keine offizielle Unfallstatistik. Er beruft sich auf eine interne Liste, wonach «seit 2005 insgesamt 15 Fälle mit Verletzungsfolge für Drittpersonen» aufgeführt sind. Angesichts der grossen Anzahl von Unfällen, in die Wandernde pro Jahr insgesamt verwickelt sind und dabei umkommen, seien die Unfälle mit involvierten Kühen ein sehr geringer Anteil, betont Flückiger und ergänzt, dass die Wahrscheinlichkeit, von einer Mutterkuh angegriffen zu werden, sehr gering sei. Komme es aber dazu, seien die Verletzungen meist schwerwiegend. Die Gründe, warum es überhaupt zu solchen Zwischenfällen kommt, sieht die BUL in mehr Muttertierhaltung, mehr Freizeitaktivitäten im Weidegebiet und weniger Fachwissen bei der Bevölkerung.

600 Kilo Mutterliebe
Wie viele Betriebe mit Mutterkuhhaltung es im Saanenland gibt, ist schwer zu sagen. Mutterkuh Schweiz spricht von vier Betrieben mit insgesamt rund 60 Kühen, die bei ihnen Mitglied sind. Gemäss Landwirtschaftliche Vereinigung Saanenland sind es «bestimmt zehn Betriebe, die Mutterkühe halten». Einer von diesen Betrieben ist « Mountain Strauss» von Christa und Christian Hefti-Lee in Gstaad. Sie gehen von rund 15 Muttertierbetrieben aus von total ca. 270 Betrieben. Christian Hefti-Lee, der – wie er sagt aus Liebe zum Tier – seit 2001 Mutterkuhhaltung betreibt, erklärt, was es mit der Mutterkuhhaltung auf sich hat. Im Gegensatz zur Milchwirtschaft bleiben bei der Mutterkuhhaltung die Kälber nach der Geburt zehn Monate bei der Mutter. Danach werden jene Kälber, die nicht zur Weiterzucht genutzt werden, geschlachtet. In diesen ersten zehn Monaten macht eine Mutterkuh dasselbe, was eigentlich jede gute Mutter auch macht: Sie wacht instinktiv über ihre Kinder und beschützt sie. Wittert eine Mutterkuh eine Bedrohung, verteidigt sie ihre Kälber und greift in extremis das Gefahrenobjekt an. «Dann kommen 600 Kilo Kampfgewicht angerannt», weiss Hefti, der selber allerdings noch nie einen Zwischenfall mit einer seiner Kühe hatte. Greife eine Kuh an, habe dies nichts mit einem schlechten Charakter des Tieres zu tun, betont Hefti, sondern sei ganz normales Verhalten. «Mutterkühe sind eben auch nur Mamis!», konstatiert er. Es gebe Vorschriften für die Bauern mit Muttertierhaltung und es gebe Verhaltensvorschriften für Wandernde. Hefti ist überzeugt, dass sich Zwischenfälle weitestgehend vermeiden lassen, wenn sich alle an die Regeln halten. Rindviehhalter können sich den Ratgeber der BUL mit dem Titel « Rindvieh und Wanderwege – Ratgeber und Checkliste» auf deren Webseite herunterladen.

Wird das Thema aufgebauscht?
«Wir haben kaum Schwierigkeiten mit Mutterkuhhaltung», gibt Patrick Bauer, Head of Product Management bei der Destination Gstaad, auf Anfrage bekannt. Mutterkuhhaltung sei in der Region relativ selten und in eher weniger frequentierten Gebieten jeweils gut signalisiert. Wandernde, die sich über korrektes Verhalten auf entsprechend signalisierten Weiden informieren wollen, können dies auf der Webseite der Destination Gstaad tun oder sich Broschüren mit dem Titel « Mutterkuh und Wanderwege» in den Infopoints abholen, welche von der landwirtschaftlichen Vereinigung zur Verfügung gestellt werden. Laut der Destination Gstaad gab es im letzten Sommer drei negative Rückmeldungen von Wanderern wegen Bikern, vier von Bikern wegen schlechter Bike-Infrastruktur und vier wegen Befürchtungen zu Mutterkühen, aber keine Zwischenfälle, wie Patrick Bauer betont. Auch der Gstaader Wanderführer Ruedi Hählen wurde nach eigenen Angaben noch nie mit dieser Thematik konfrontiert und hat selber auch noch keine bedrohliche Situation erlebt.

Regeln einhalten gilt für alle
Wanderwege queren Weiden, daran dürfte sich auch in Zukunft wenig ändern. Eine Auszäunung der Wege durch den Landwirt sei keine befriedigende Lösung, winkt Christian Hefti-Lee ab. Dies könne dazu führen, dass Weiden von Ställen oder Tränken getrennt würden. Eher sollte man bei der Aufzucht der Kälber diese bereits an den Menschen gewöhnen, was sich später positiv auswirke. «In der Schweiz gibt es Mutterkuhhaltung seit den 1970er-Jahren», weiss Daniel Flückiger von Mutterkuh Schweiz. Wer heute in die Mutterkuhhaltung einsteige, soll und könne von der Erfahrung der anderen profitieren. Die Professionalität der Schweizer Mutterkuhhalter sei auf einem beachtlichen Niveau. Um die Risiken für Wanderer zu minimieren, gebe es für Tierhalter die Checkliste « Rindvieh und Wanderwege». Diese, davon ist Flückiger überzeugt, werde «breit angewendet und umgesetzt». Und Dominique Thiévent hält fest, die BUL biete entsprechende Unterstützung, damit der Landwirt seiner Sorgfaltspflicht nachkomme. Komme es trotz allen Vorsichtsmassnahmen doch zu einem Schadenfall, laufe die Versicherung über die betriebliche Haftpflichtversicherung. Die BUL rät allerdings, die Deckung der Versicherung abzuklären, insbesondere, wenn Tiere auf der Weide mit einem Wanderweg gehalten werden. Über die Haftung gibt das Obligationenrecht Art. 56 D « Haftung für Tiere» Auskunft.

Hundehalter sollten besonders vorsichtig sein: Praktisch in allen Fällen, in denen Menschen durch Kühe auf der Weide zu Schaden kamen, sind Hunde mit im Spiel. Menschen können beim Angriff von Nutztieren auf Hunde zwischen die Fronten geraten und überrannt werden, warnt die BUL. Auch Christa Hefti-Lee betont: «Wanderer müssen ihre Hunde unbedingt an der Leine führen, damit diese die Kuhherde nicht provozieren!» Wenn eine Kuh angerannt komme, sei der Hund sofort von der Leine zu lassen, da die Kuh den Hund fokussiere. Auch sind Hunde schneller und wendiger als Kühe und werden kaum verletzt. Dadurch sollte die wandernde Person unbeschadet bleiben. Ebenso gelte es, Augenkontakt mit den Tieren zu vermeiden und eine Herde möglichst weiträumig zu umgehen.


SO FUNKTIONIERT DIE HERDE

Gemeinsam fressen Rinder Gras, vertreiben Fliegen und erziehen Kälber. In der Gruppe fühlen sie sich sicher. Die Herde wird von erfahrenen Kühen angeführt. Etwa ab der zweiten Alterswoche schliesst sich das Kalb einer Kälbergruppe an, welche von älteren Kühen oder auch von einem Stier beaufsichtigt wird. Um für Nachwuchs sorgen zu können, überblickt der Stier die Brunstzyklen aller seiner Kühe. Ist eine Kuh brünstig«verliebt» sich der Stier in sie und vertreibt jeden, der ihr zu Nahe kommt: Egal ob Stier, Kuh oder Mensch.


EINER FÜR ALLE, ALLE FÜR EINEN

Taucht ein Eindringling auf, wendet die Herde die Bedrohung gemeinsam ab. Jungtiere sind für Raubtierangriffe besonders anfällig und werden entsprechend gut beschützt. Die Herde verteidigt sich auch gegen Menschen, wenn sie zu nahe kommen und als Gefahr eingestuft werden – insbesondere in Hundebegleitung. Führen Sie Ihren Hund an der Leine, umgehen Sie die Herde grossräumig und verhindern Sie, dass Ihr Hund die Herde anbellt oder herumjagt. (BUL)


RINDVIEH, STIER UND WANDERWEGE

Zaunanlagen brauchen Öffnungen als Aus- und Eingang für Mensch und Tier. Bei Durchgängen von Wanderwegen ist darauf zu achten, dass notwendige Tore möglichst selbständig schliessen. Besser ist es, diese Wege auszuzäunen. Das Betreten einer bestossenen Weide durch unbekannte Personen ist riskant. Zwischenfälle führen oft zu Rechtsstreitigkeiten. Läuft ein Stier mit, sind Schilder mit dem Hinweis «Betreten verboten, Stier läuft mit» zu montieren. Warnschilder «Elektrozaun» sind in jedem Fall entlang von Strassen, Spazierwegen, Hausgärten usw. anzubringen. Passanten sind über Gefahren aufzuklären. Eine besondere Gefahr stellen Mutterkuhherden dar. Die Tiere entwickeln ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl und vertreiben vermeintliche oder wirkliche Angreifer.
(BUL)


EMPFEHLUNGEN FÜR WANDERER

Halten Sie Distanz zu Rindvieh. Kälber auf keinen Fall berühren. Hunde an der Leine führen und im Notfall loslassen.


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote