Ein Leben für die Turnelsalp

  30.08.2019 Gstaad

Gemeinsam stark: Ein halbes Jahrhundert lang führte Jakob Zumstein die Alp Turnels durch Höhen und Tiefen, seit vier Jahrzehnten gemeinsam mit seiner Frau Erika. Nun ist es Zeit für den letzten Alpabzug und für die Übergabe an die nächste Generation.

Mehr Verwurzelung geht nicht: Als er gerade einmal zwei Monate alt war, kam Jakob im Jahr 1948 zum ersten Mal auf die Turnelsalp. Es war eine Selbstverständlichkeit für seine Eltern, schon die Kleinsten mitzunehmen. Genauso sollte es das Ehepaar Zumstein später auch mit den eigenen drei Kindern praktizieren. Jakob Zumstein übernahm 1969 den elterlichen Hof in der Bissen, und somit war er auch alleine verantwortlich für die Alp.

Zehn Jahre später war dann schon Erika mit dabei. Die 64-Jährige erinnert sich, dass sie schon als Kind jeweils zwei Stunden lang im Käsekessi auf der Alp ihres Vaters rühren musste. Nicht gerade ihre Lieblingsbeschäftigung. Deshalb sagte sie damals: «Einen Bauern heiraten – gerne. Aber keinen, der auf die Alp geht!» Ihre Mutter schmunzelte nur und sagte: «Schauen wir mal.» Es kam, wie es kommen musste: «Ich war so verliebt in meinen Jakob! Als er fragte, ob ich mit ihm auf die Alp komme, da sagte ich ohne nachzudenken: Ja!» Doch dann kam Jakobs Überraschung: Er hatte schon damals ein elektrisches Rührwerk – als einer der ersten im Saanerland.

Ja, die Technik. Vieles hat sich verändert in diesen Jahrzehnten. Gemeinsam mit Vater und Bruder molk Jakob Zumstein noch mit der Hand. Der Mist wurde mit dem Pferd aus dem Stall gezogen, und der Käse auf dem Schlitten ins Tal gebracht. Dieser hatte vorne zwei Räder und hinten zwei Kufen. «Die Technik heute ist schon sehr hilfreich. Aber man muss auch sagen: Sie kostet viel Geld. Doch wo du früher mit der Sense gemäht hast, macht das der Traktor heute fast schon alleine mit GPS …», schmunzelt der Landwirt.

Jede Verbesserung musste hart erkämpft werden. Vor genau 30 Jahren baute Jakob Zumstein mit seinem Alpnachbarn durch den letzten hohen steilen Hang einen Weg, der nun mit Geländeautos befahrbar ist. Zuvor war man nur mit dem Pferd hochgekommen. Oder mit der Materialseilbahn. Erika Zumstein erinnert sich nur allzu gut. Denn als sie im sechsten Monat schwanger war, bekam sie mitten in der Nacht Wehen. Es gab weder Telefon noch Funk. Im ersten Morgengrauen schwebte sie im Seilbähnli hinunter ins Tal. Im Spital konnte man die Wehen medikamentös stillen. «Jos kam drei Monate später zur Welt, ein gesundes Büblein.» Dieser Jos wird nun in Zukunft die Alp führen. Er sagt: «Es ist eine schöne Sache, dass ich hier weitermachen darf. Ich bin stolz auf meine Eltern, dass sie die Alp so lange und so gut geführt haben.»

Höhen und Tiefen wie Berge und Täler
Wenn nach schweren Unwettern der Weg zwei, drei Meter vom Geröll verschüttet war, griff man halt zur Schaufel. Was auch sonst. Schwerer war das Jahr 1999. Eine Staublawine riss die Alphütte fort und auch diejenige des Nachbarn. «Zuerst waren wir traurig, auch weil so viele schöne antike Dinge weg waren», erinnert sich Erika Zumstein. Aber dann wurden die Ärmel hochgekrempelt und mit viel Eigenarbeit eine neue, grosse Alp gebaut. Und zwar gemeinsam mit dem Nachbarn, nun unter ein- und demselben Dach. Rechts Familie Zumstein, links Familie Michel, die vielen durch ihr Stallbeizli in Gstaad bekannt ist.

Beide Seiten lieben es, so zusammenzuleben. Wenn Not am Mann oder an der Frau ist, oder wenn gerade etwas fehlt, hilft der Nachbar immer gerne aus. Deshalb sagt Erika Zumstein heute: «Ja, die Lawine hatte auch ihr Gutes. Sie war nicht nur ein Schock, sondern auch eine Glücksache.» Jetzt ist alles grösser, moderner und wärmer als zuvor. Auch für Gäste ist nun Platz, selbst zum Übernachten. Dabei liegt man auf einer Art Galerie, halb über den Kühen. Nach dem Melken und Käsen gibt es eine ganz besondere Attraktion: In der noch warmen Molke lässt sich vortrefflich baden, stilgerecht im Holzzuber. Dieses Kuriosum haben schon viele Gäste aus der ganzen Welt genossen.

Keine Langeweile
Mit seinem Humor weiss das Älplerpaar die Gäste immer gut zu unterhalten. Und sobald diese wieder weg sind, hat man an langen Abenden Gesprächsstoff über ferne Länder und fremde Sitten. Langweilig wird den beiden auch ohne TV nie. Dem Abendrot zusehen, Zeitunglesen, Kartenspielen, Volksmusik im Radio hören – und einfach froh beisammen sein, das genügt. So oft wie möglich gesellt sich eines der drei erwachsenen Kinder hinzu. «Ganz einfach deshalb, weil sie hier so tief verwurzelt sind. Als wir als Familie hier oben zusammenwuchsen, hatten wir einfach unsere glücklichsten Zeiten», verrät Erika Zumstein. Trotz so mancher Härte, denn diese Alp auf fast 1900 m ist nichts für Warmduscher. «Im Alpkataster wird sie beschrieben als Herausforderung für Tier und Mensch», weiss Jakob Zumstein und ergänzt: «Turnelsalp bedeutet: die ungestüme Alp.»

Harte Arbeit von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang ist der Normalfall. In freien Stunden geht es die Steilhänge hoch, um Unkraut zu entfernen. Und es kommt auch vor, dass sich Mensch und Tier während der Sömmerung durch den Schnee arbeiten müssen. Oder dass ein Kälbchen in der steilen Felsenwand abstürzt, sich Knochen bricht und vom Helikopter gerettet werden muss. Doch solchem Unbill steht ein grosses Mass an Freiheit gegenüber. «Immer war ich mein eigener Herr und Meister», betont der Bergbauer, «und nie hat mir jemand befohlen, was ich zu tun habe. Das wäre auch nicht gut gekommen», lächelt er.

Dass man die Alp nun in bestem Zustand der nächsten Generation übergibt, erfüllt mit Zufriedenheit, und, ja, mit etwas Stolz. An der Wand in der Stube hängt ein altes Foto von 1916. Der Fotograf war damals mit schwerer Ausrüstung den Berg hochgekommen. Das Bild zeigt Jakob Zumsteins Grosseltern und seinen Vater, damals 17 Jahre alt. Neben diesem Foto hängen verschiedene Urkunden. Sie bezeugen die hervorragende Qualität des Alpkäses. Die Goldmedaille des Concours International des Fromages de Montagne in Grenoble hat Erika Zumstein am meisten Freude bereitet.

Ein wenig Wehmut
Wie geht es nun weiter? «Es ist schon ein wenig Wehmut mit dabei, bei diesem letzten Alpabzug», sagt Erika Zumstein. Aber sie liebt es, bald mehr Zeit zu haben, um Pilze zu sammeln und Beeren für ihre Konfitüren. Diese bietet sie dann mit selbstgebackenem Kuchen und mit eigenem Käse, Wurst und Trockenfleisch jeden Freitag feil, am Stand der Landfrauen mitten in Gstaad. Und ja, auch auf Schwingfeste möchte sie gehen. Ihr Mann will auch weiterhin hoch hinaus. Vor genau zehn Jahren bestieg er den Elbrus im Kaukasus, den mit 5642 m höchsten Berg Europas. Jetzt möchte er sich noch einen alten Traum erfüllen, den Biancograt auf den Piz Bernina, 4049 m hoch. Gerne ist er auch weiterhin bereit, den Jungen zu helfen und ihnen zur Hand zu gehen: «Aber nur, wenn sie das auch wollen.»

PD

Video: https://tinyurl.com/yye7f5rw


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