«Wir haben hier schöne Berufe»

  29.10.2019 Gstaad

Beim Lehrlingswettbewerbs zum Thema «Flugangst» gab es dieses Jahr zwei Einzelsieger: Silas Bach und Binia Reichenbach. Timon Zimmermann und Isaac Mottier schnitten im Teamwettbewerb am besten ab. Am selben Tag fand auch das Podiumsgespräch zum hiesigen Lehrstellenmarkt statt.

SARA TRAILOVIC
10’000’000 Flüge werden im Jahr aus Angst storniert. Was hilft denn, wenn sich der Magen schon beim Gedanken an die engen Sitzreihen und die möglichen Turbulenzen umdreht? Die meisten der 34 Teilnehmenden des Lehrlingswettbewerbs haben sich mit dieser Frage auseinandergesetzt, andere dehnten den Begriff weiter aus. 12 Einzelteilnehmer/innen und 9 Teams konzipierten, testeten, verwarfen, skizzierten, hämmerten, klickten und fotografierten mit viel Herzblut. Die fertigen Werke waren während vier Tagen auf der Bühne im Festival-Zelt Gstaad ausgestellt und wurden von einer fachkundigen Jury bewertet. Am Samstag fand dann die Rangverkündigung des Wettbewerbs statt, welcher alle zwei Jahre im Rahmen der Gstaader Messe ausgetragen wird. Die Podestplätze wurden von angehenden Spenglern, einer Schreinerin, einem Zimmermann und einer Polygrafin belegt.

Handwerkskunst kam gut an
Binia Reichenbach holte sich den ersten Platz im Einzelwettbewerb mit dem Geschicklichkeitsspiel «Corne Au-peur», bei dem die Kletterpartie zum Corne Aubert – einem Gipfel der Gastlosen – zu bewältigen ist. «Ich bin dieses Jahr der JO Oldenhorn beigetreten und möchte diese Route irgendwann einmal am echten Fels klettern», so die Lernende (Gebrüder Hauswirth Schreinerei GmbH). Und was habe ihre Arbeit mit Flugangst zu tun? «Beim Klettern hat man natürlich manchmal Angst vor dem Abstürzen. Und beim Spiel vor dem Fall der Kugel», erklärte die Lernende gegenüber dem «Anzeiger von Saanen».

«Auch Vögel haben Angst, wenn sie das erste Mal fliegen müssen.» Viel mehr sagten Timon Zimmermann und Isaac Mottier nicht zu ihrem Werk «U-Huuu», mit dem sie den ersten Preis unter den Gruppenarbeiten erhalten hatten. Die Idee habe sich in Gesprächen mit Freunden und Familie ergeben. Bald hätten sie sich daran gemacht, das Grundgerüst für Mutter Uhu zu bauen. Später nieteten sie dann das Federkleid aus einzeln angefertigten Kupfer- und Zinkstreifen an – eine Geduldsarbeit. «Noch kniffliger wurde es beim kleinen Uhu, da alles noch feiner war», steht in der Beschreibung der Skulptur. Den Ast, worauf das Nest der beiden Vögel sitzt, habe ein Arbeitskollege gefunden, doch woher das Nest komme, bleibe ein Geheimnis.

Flugangst überwinden
Mit gleich vielen Punkten wie Binia Reichenbach erreichte auch Silas Bach, Lernender bei der Bach & Perreten Holzbau AG mit seiner «Gstaadair Bar» den ersten Rang. Am Tag der Siegerehrung war er leider abwesend, doch sein Werk begeisterte viele Besucher/innen der Ausstellung. Wie der Dokumentation zu entnehmen war, soll die aufklappbare Bordbar mit farbwechselnder LED-Ausleuchtung Passagiere während Linienflügen vom Gstaad Airport nach London, Hamburg, Paris und anderen europäischen Grossstädten beruhigen.

Andere Arbeiten boten gesundheitsund vor allem umweltschonende Alternativen zur Flugreise. Auf der Webseite von «Fligthless», dem Projekt von Noah Bill und Nico von Grünigen, können Benutzer/innen eine Wunschdestination eingeben und erhalten fluglose Reisealternativen. Die einfachste Lösung gegen Aviophobie lieferten jedoch Nick Jaggi und Livio Walker. «Unser Tipp: Ferien zu Hause verbringen» Und dazu haben sie Liegestühle mit Beistelltisch aus Massivholz hergestellt.

Wie auch andere Auszubildende hat das Team des Betriebs Arnold Reuteler Holzbau AG jede Menge Arbeitsstunden aufgewendet. «Zuerst brauchten wir 40 Stunden pro Person für die Planung und dann insgesamt 400 für die Herstellung – exklusive Biertrinken», informierte Nick Jaggi nach der Rangverkündigung.

«Wir haben die Bewertung so fair wie möglich gestaltet»
Valerie Ludi hatte bereits vor der Bewertung informiert, dass handwerkliche Arbeiten generell höhere Gewinnchancen hätten, obwohl auch andere Projekte von hoher Qualität seien. Sie bildet zusammen mit Jasmin Käser und Marc Walker seit 2016 das Organisationskomitee der Talentplattform. «Um diesem Phänomen etwas entgegenzuwirken, war dieses Jahr pro Beruf mindestens ein Jurymitglied dabei», so Ludi gegenüber dieser Zeitung. Trotzdem bestätigte sich auch dieses Jahr der Trend zu handwerklichen Arbeiten in den vorderen Rängen. Jasmin Käser: «Dadurch, dass im Durchschnitt mehr Lernende aus handwerklichen Berufen teilnehmen, sind auch unter den Jurymitgliedern mehr Leute mit Fachwissen in diesem Bereich vertreten.» Dabei spiele auch eine Rolle, dass das Saanenland eine Region mit Handwerkstradition sei, erklärte Käser weiter. «Die wirkungsvollste Methode für mehr Berufsvielfalt in den Spitzenrängen ist, dass mehr Lernende aus anderen Bereichen mitmachen», so das Organisationskomitee.

«Wir haben die Bewertung so fair wie möglich gestaltet.» Die Werke wurden in vier Durchgängen beurteilt. Vom ersten Eindruck über das schlichte Einhalten der Vorgaben bis hin zur fachlichen Qualität mit Einbezug der Ausbildungsstufe. Betriebsname, Branche und Lehrjahr blieben dabei geheim.

Podiumsdiskussion zum Lehrstellenmarkt
«An der World Skills in Russland reihte sich die Schweiz an dritter Stelle ein, was die Qualität des Berufsbildungswesens angeht, direkt hinter China und Korea.» Mit dieser erfreulichen Information eröffnete Frank Müller, Verlagsleiter der Müller Medien AG, am Samstagvormittag das Podiumsgespräch mit fünf Fachkundigen aus verschiedenen Bereichen des hiesigen Lehrstellenmarkts. (Mehr zu diesem Thema in der Ausgabe vom 22. Oktober)

Mit dabei war der Leiter des Gymnasiums in Gstaad, Christoph Däpp. Mit seiner Anwesenheit unterstrich er eine seiner Kernaussagen: dass nämlich Gymer und Berufslehre keine Konkurrenz seien. «Wir haben hier sehr schöne Berufe», sagte Däpp. Das zeige sich auch in den Zahlen. Im Saanenland wählen im Vergleich zum kantonalen Durchschnitt deutlich mehr Schulabgänger/ innen den beruflichen Ausbildungsweg. «Wichtig und gut ist, dass sich die Jugendlichen hier frei für den Weg entscheiden können, der zu ihnen passt.» Abschliessend sagte Däpp: «Ob Gymer oder Lehre, wenn die Jugendliche ihre Erstausbildung hier im Saanenland absolvieren, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass sie später auch hier arbeiten. Angesichts des Fachkräftemangels sei das von grosser Bedeutung. Denn die Verbindung zur Region gehe meist verloren, wenn sie ihre Erstausbildung im Unterland absolvierten.

Unabhängig davon, ob Jugendliche nach der obligatorischen Schulzeit ihre Allgemeinbildung vertiefen wollen oder sich Fachwissen in einem bestimmten Berufsfeld aneignen wollen, «ist es in der heutigen, schnelllebigen Zeit wichtig, dass man sich nach der Erstausbildung weiterentwickelt», erklärte Marc Matti, Leiter der Wirtschaftsschule Gstaad/Thun. Im Bezug auf die Lehrstelle heisse das, dass die Jugendlichen eine zweite Lehre oder Weiterbildung anhängen würden. «Am besten zeigt man sich bei jeder Schnupperlehre von der besten Seite», empfahl Svenja Brand, kaufmännische Lernende im zweiten Ausbildungsjahr, «denn die Betriebe hier kennen sich und können sich gegenseitig austauschen.»

Weitere Themen waren die Wichtigkeit mehrerer Schnupperlehren sowie die Möglichkeiten zum Welschlandjahr und wie die Eltern ihre Kinder bei der Berufswahl unterstützen können. Dazu wusste besonders Sylvia Thoma Bescheid. Sie kommt als Berufsberaterin mindestens einmal pro Monat in die Region. Und Christoph Romang, der als Lehrlingsausbildner des Schuhhauses Romang viel Erfahrung im Umgang mit Auszubildenden vorweist, stellte klar, dass schliesslich die Motivation und die richtige Chemie für eine erfolgreiche Lehre ausschlaggebend seien. «Schnuppern ist ein Muss.»

Nach dem Podiumsgespräch konnten sich die Jugendlichen direkt mit Ausbildungsbetrieben unterhalten, denn die Lehrstellenbörse fand zum zweiten Mal ihren Platz an der Gstaader Messe.


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