Und jetzt kracht es halt doch

  30.10.2020 Leserbeitrag

Dass der Kaukasus ein Pulverfass ist, dürfte eigentlich keine Überraschung mehr sein. Die Länder dort sind aus vielfältigen Gründen seit Jahrzehnten, ja sogar seit Jahrhunderten verfeindet. In diesem Gebirgszug treffen nicht nur sechs verschiedene Länder aufeinander, sondern auch zwei Religionen (mit ihren diversen Untergruppen, was manchmal fast noch schlimmer ist), diverse Ethnien und eine fast babylonische Vielfalt an Sprachen, die untereinander nicht kompatibel sind.

Und seit ein paar Wochen kracht es wieder so richtig: Aserbaidschan und Armenien stehen wieder in einem richtig heissen Krieg, nachdem sie über 20 Jahre lang einen mehr oder minder eingehaltenen Waffenstillstand bewirtschafteten.

Es geht in diesem Krieg um die Region Bergkarabach. Das ist eine wirklich gottverlassene Gegend mit ein paar Hundertausend Einwohnern. Völkerrechtlich gesehen liegt das Gebiet in Aserbaidschan, gemäss Selbstdarstellung ist es ein selbständiger Staat, faktisch ist es ein Teil Armeniens. Mein Besuch in diesem Land vor fast zehn Jahren hat mir die Augen geöffnet. Ich konnte zuvor nicht verstehen, wie man um ein solches Stück Land einen solch vernichtenden Krieg führen kann. Ich habe schnell begriffen, dass es nicht wirklich um das Land, sondern um die Leute geht: Stichwort ethnische Säuberungen und unterdrückte ethnische Konflikte unter dem Dach der grossen, mächtigen Sowjetunion. Ehrlich gesagt war ich danach sogar überrascht, dass dieser Waffenstillstand so lange anhalten konnte.

Doch zurück zum aktuellen Krieg, der wieder mit ziemlicher Härte ausgebrochen ist: Man kann manchmal nicht genau sagen, was einen kalten Konflikt wieder zu einem heissen Krieg macht. Oft sind es kleine Provokationen, die ganz ungeplant aus dem Ruder laufen und zu einer unseligen Kettenreaktion führen.

Im Falle des aktuellen Karabach-Krieges stellt sich die Lage aber etwas anders dar: Das ist eine geplante und gewollte Eskalation. Aber nicht, weil es Aserbaidschan plötzlich doch zu bunt wurde oder die Armenier das Gefühl hatten, zu fest eingeschnürt zu sein.

Was wir hier beobachten können, ist reine Geopolitik. Und die wird bekanntlich nicht von kleinen Kaukasus-Staaten betrieben, die eh ums tägliche Brot kämpfen müssen, sondern von grossen Ländern, die Interessen in dieser Region verfolgen. Hier war es wohl die Türkei, die mit ihren Unterstützungskundgebungen Aserbaidschan zu einer Verschärfung des Konflikts getrieben hat. Sie können hier neue Waffen testen, sich den Zugang zum aserbaidschanischen Erdgas sichern und haben eine weitere Basis für Aktionen im Mittleren Osten – und natürlich können sie die verhassten Armenier in die Mangel nehmen, ohne dass sie sich selbst die Finger schmutzig machen müssen.

Und auch die Russen sind involviert: Sie müssten eigentlich den Armeniern zu Hilfe kommen, weil diese beiden Länder ein Militärbündnis haben. Aber, und das wissen die Türken auch, erst wenn das eigentliche Armenien angegriffen wird.

Mich schockiert das: Hier werden zwei Völker weiter gegeneinander aufgestachelt, die vor Sowjetzeiten zwar nicht immer in Frieden, aber doch nebeneinander und miteinander gelebt haben. Es gibt in diesen Zeiten doch eigentlich schon genug Weltschmerz, als dass man solche Konflikte anheizen müsste. Aber es ist die bittere Wahrheit: Corona hin oder her, die Show muss auch auf der Weltbühne weitergehen.

SEBASTIAN DÜRST
[email protected]


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote