15 Kilometer, die die Welt bedeuten

  29.01.2021 Leserbeitrag

Die Corona-Pandemie hat die Welt immer noch fest im Griff. Dabei gibt es an der Gesundheitsfront altbekannte und neue Entwicklungen. Dramatisch, aber nicht neu ist zum Beispiel, dass die Gesundheitssysteme vieler Länder am Anschlag sind. Neu ist, dass immer mehr Länder Impfstoffe zulassen. Und zu einem Hintergrundrauschen der Corona-Krise wurden die Proteste, die mit den Massnahmen einhergehen, die von der Politik angeordnet wurden.

Diesem Kritisieren von Behördenmassnahmen will ich in dieser Kolumne einige Worte widmen. Egal, wie sich die Pandemie weiterentwickelt: Diese Kritik wird sich noch geraume Zeit halten.

Zuerst will ich vorausschicken, dass diese Kritik legitim ist. Das ist jede Kritik an einem politischen Entscheid, egal wie dramatisch die Lage gerade ist: Politiker werden für genau solche Situationen gewählt, mit der Kritik müssen sie umgehen können. Auffallend ist jedoch, dass das Kritisieren von Entscheiden in der Corona-Zeit Muster angenommen hat, die nicht mit anderer Kritik zu vergleichen sind. Es ist nämlich nur in Ordnung, Kritik an solchen Entscheiden zu üben, wenn man zuvor auch versucht, den Sinn dahinter zu verstehen.

Ein hervorragendes Beispiel bietet dieser Tage Deutschland. Dort wurde der Bewegungsradius der Menschen eingeschränkt, wenn sie in einem Risikogebiet leben. 15 Kilometer darf man sich vom eigenen Wohnort noch entfernen. Das hat für viel Spott gesorgt: Wenn die Nichte 17 Kilometer entfernt wohnt, darf man sie nicht besuchen. Aber alle innerhalb des Radius darf man ohne Hemmungen besuchen.

Das scheint auf den ersten Blick tatsächlich nicht sehr überlegt zu sein: Das funktioniert einfach nicht, wenn man die Corona-Ausbreitung wirklich eindämmen will. Dabei vergessen die Kritiker ob all der Häme jedoch, dass diese Regelung nur nötig wurde, weil die einfachen Regeln offensichtlich nichts geholfen haben. Alle Corona-Regeln gibt es nur, weil die Menschen sich nicht von selbst an die (wirklich einfachen) Grundregeln halten wollen. Abstand halten, Kontakte minimieren.

Es ist kindisch, dann konkretere Regeln zu kritisieren, die nur nötig wurden, weil die einfachen Grundregeln nicht eingehalten werden. Und dann die konkreteren Regeln nur darauf zu prüfen, wie sie umgangen werden können. Sie wurden schliesslich nicht dazu gemacht, die Menschen in diesen Gebieten zu ärgern, sondern dafür, das Risiko einer Corona-Ansteckung zu verkleinern.

Ich vergleiche das gern mit den vielen Regeln, die es im jüdischen Glauben gibt. Eine ganze Industrie beschäftigt sich in Israel damit, Juden trotz strenger Schabbat-Regeln ein so normales Leben wie möglich zu erlauben. Den Knopf an einem Lift zu drücken, ist zum Beispiel nicht erlaubt. Die Lösung der findigen Verkäufer: Lifte, die am Schabbat ohne Knopfdruck einfach von Stockwerk zu Stockwerk fahren, ohne dass jemand einen Knopf drücken muss. «Wenn Gott gewollt hätte, dass wir das nicht so lösen, hätte er die Regel so formuliert, dass es nicht möglich ist, die Regel zu umgehen», ist sinngemäss die Einstellung der Juden zu diesen Regeln.

Nun sind unsere Politiker aber keine Götter: Ihre Regeln sind nicht dazu da, umgangen zu werden, gerade in einer solchen Krisensituation. Sie dienen dazu, dem Einzelnen Regeln zu geben, an die er sich halten kann, ohne jede Aktion selbst auf die Corona-Gefahr bewerten zu müssen. Oder anders formuliert: Die 15-Kilometer-Regel ist ein gutes Beispiel dafür, wie ein kindisches Spiel groteske Formen annehmen kann. Hoffen wir, dass sich diese Spirale bald nicht mehr weiterdrehen muss.

SEBASTIAN DÜRST
[email protected]


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