Frühling in Paris

  28.01.2022 Leserbeitrag

Seit April 2008 erscheint jeweils am letzten Freitag im Monat der «Blick in die Welt». Unser erste Autor war Gaudenz Baumann, ehemaliger Leiter der Auslandredaktion des «Aargauer Tagblattes». Nach seinem überraschenden Tod im November 2013 konnten wir mit Jürg Müller erneut auf einen erfahrener und ausgewiesenen Journalisten zählen. Sechs Jahre zeichnete er für den «Blick in die Welt» verantwortlich, ab März 2020 Sebastian Dürst, Redaktionsleiter der «Glarner Nachrichten». Auf ihn folgt mit Oswald Sigg erneut ein profunder Kenner der Politik im In- und Ausland.

Oswald Sigg, 1944 in Zürich geboren, studierte Soziologie, Volks- und Betriebswirtschaft an den Universitäten St. Gallen, Paris und Bern. 1978 promovierte er bei Erich Gruner am Forschungszentrum für schweizerische Politik an der Universität Bern mit einer Doktorarbeit über die Wirkungsweise der Volksinitiative. Oswald Sigg arbeitete bei der SDA, der SRG und in der Bundesverwaltung. Er war bis zu seiner Pensionierung Vizekanzler und Bundesratssprecher. Heute ist er publizistisch tätig.

Oswald Sigg ist häufig im Saanenland, seine Ehepartnerin Regina Steffen ist eine gebürtige Saanerin. Wir heissen Oswald Sigg herzlich willkommen und freuen uns auf seinen monatlichen «Blick in die Welt».

REDAKTION «ANZEIGER VON SAANEN»

Vor über 40 Jahren, im sonnigen Mai 1979 in Paris, strahlten einem da und dort bunte Plakate entgegen mit der Einladung zum «Printemps des socialistes européens». Weil ich am 7. Mai 1973 schon der Sozialdemokratischen Partei Bern-Ost beigetreten war, folgte ich dem Aufruf und stand an einem schönen Frühlingsmorgen vor einer «Eventlocation» an der Avenue de Wagram im 17. Arrondissement von Paris – ein par Schritte vom Arc de Triomphe entfernt.

In dieser «Salle Wagram» fanden damals vorwiegend Catch- und auch Boxkämpfe statt und ich wunderte mich noch über den Austragungsort für einen seriösen politischen Kongress. Zehn Minuten vor Beginn des «sozialistischen Frühlings» tummelten sich vor dem Eingang ein paar Türhüter und es begehrten immer mehr Kongressbesucher und -besucherinnen Einlass und zeigten dem Sicherheitspersonal ihre Ausweise. Als ich beim Eingang stand und den roten Pass mit dem Schweizer Kreuz zeigte – nicht ohne meine Mitgliedschaft beim «Parti Socialiste Suisse – Section Berne-Est» zu erwähnen – wurde mir der Zutritt verwehrt mit dem Argument, es handle sich hier und heute quasi um eine private, geschlossene Gesellschaft. Ich müsste schon eine persönliche Einladung vorweisen können.

Zerknirscht entfernte ich mich vom Eingang und beobachtete vom Trottoirrand aus, wie die zahlreichen Eingeladenen ihren reservierten Plätzen im Innern der «Salle Wagram» zustrebten. Plötzlich waren von weitem im Strassenlärm sich rasch nähernde Polizeisirenen auszumachen. Dann hielt eine Motorradeskorte der Polizei am Trottoirrand – keinen Meter neben mir. Dann ging alles schnell.

Die sechs Polizisten fuhren mit ihren Töffs noch ein paar Meter weiter und genau dort, wo ich stehen geblieben war, hielt eine schwarze Peugeotlimousine. Ein Polizist öffnete die hintere Tür und heraus zwängte sich Frankreichs Präsident, François Mitterrand. Er trat zu mir, gab mir die Hand und sagte freundlich: «Bonjour Monsieur.» Dann schritt er sofort dem Eingang zu, sein Chauffeur fuhr weiter und schon hielt die nächste Staatskarosse am Trottoirrand und ihr entstieg Italiens Staatspräsident Benito Craxi, aus der nächsten der deutsche Bundeskanzler Willy Brandt und aus der letzten wetzte sich der österreichische Bundeskanzler Bruno Kreisky. Alle drei begrüssten mich ebenso freundlich, wenn auch ohne Handschlag.

Immerhin: nach nur ein paar Jahren aktiv in der SP Bern-Ost bereits die wichtigsten europäischen SP-Politiker getroffen – das sollte mir mal einer nachmachen.

Aber: jetzt waren hier durch ihre höchsten Würdenträger Frankreich, Deutschland, Österreich und Italien vertreten und mittendrin lag doch die Schweiz – und sie war abwesend. Warum war da nicht auch entweder SP-Parteipräsident Helmut Hubacher oder noch besser SP-Bundesrat Willi Ritschard am Frühlingstreffen mit dabei? Umso mehr als die SP Schweiz damals noch Mitglied der Sozialistischen Internationale – der Organisatorin des Anlasses – war.

Sinnierend machte ich mich auf zum nächsten Metro-Bahnhof an der Place des Ternes. Willi Ritschard wäre zwar sicher gerne nach Paris gefahren, nur schon, um Willy Brandt zu treffen. Aber mit dem Sozialismus hatte er wenig am Hut und mit Europa noch weniger. In Mittel- und Osteuropa gab es damals noch ein paar sozialistische Staaten, was den Glanz von Europa für einen gestandenen Sozialdemokraten massiv reduzieren musste.

Willi Ritschard überhaupt: Die schweizerische Art von Sozialismus lag für ihn – wenn schon – in der Tatsache, dass der Bundesrat gar nicht die Landesregierung sei, wie er mir einmal erklärte, sondern das Volk. Heute hätte er sicher keine Angst gehabt davor, den Rahmenvertragsentwurf mit der Europäischen Union getrost der Abstimmung von Volk und Ständen zu überlassen.

OSWALD SIGG

JOURNALIST, EHEMALIGER BUNDESRATSSPRECHER [email protected]


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