Verfassungsfreunde

  25.02.2022 Leserbeitrag

Freunde sind gut, aber wehe dem, der ihrer bedarf in der Not.

Ein einziger Blick auf die Welt genügt: die Covid-19-Pandemie ist – oder war – eine globale Erscheinung. Die Plattform statista.de zeigt auf, dass China mit 3’036’707’000 Impfungen Weltmeister in dieser Disziplin ist. Die Schweiz figuriert da mit 15’447’870 Impfungen etwas abgeschlagen – aber immerhin noch in der ersten Hälfte der Nationen. Hingegen liegen bei den Fallzahlen die USA an der Spitze – aber auch nur auf der Liste der am schwersten betroffenen Länder. Und zu denen gehört die Schweiz zum Glück nicht.

Wir werden ohnehin erst viel später Gewissheit über allerhand soziale, kulturelle und ökonomische Verwerfungen erhalten, die zu den Folgen dieser Pandemie gehören.

Wie sieht es in unseren Nachbarländern aus? In der Auflistung der durch Covid-19 bedingten Reformen und Aktivitäten zählt die EU-Kommission auf: Gesundheit, Tourismus, Forschung und Innovation, Desinformation, Logistik, Beschäftigung und Wirtschaft, Krisenmanagement und Solidarität. Vermutlich gibt es auch ein ähnliches Verzeichnis für die Schweiz.

Aber hier bei uns hat sich noch etwas Besonderes verändert: die direkte Demokratie. Schon im ersten Halbjahr 2020 gab es – trotz Verbot – Demonstrationen auf dem Berner Bundesplatz gegen Corona und gegen den Bundesrat. Ein Beteiligter korrigierte gegenüber einem Journalisten sofort: «Dies ist keine Demonstration, sondern eine Mahnwache. Denn die Verfassung ist ausser Kraft wegen der Regierung.» Auf Plakaten war an diesen Demonstrationen zu lesen: «R.I.P.-Demokratie, 1291–2020» oder auch «#StayAwake für Freiheit und Selbstbestimmung», «Hochfinanz Gates», «Back 2 normal. ch», «Schaut hin – woher kommt das viele Geld?», «Wer profitiert?» oder «Wir sind der Widerstand» und «Jetzt ist Schluss».

Demonstrationen sind durch den Artikel 22 der Bundesverfassung geschützt: «Die Versammlungsfreiheit ist gewährleistet». Diese Freiheit brachte und bringt es noch immer mit sich, dass die Coronagegner auch Zulauf von Rechtsextremisten und Neonazis erhalten. Obschon Kundgebungen auf öffentlichem Grund in der Stadt Bern allein schon bewilligungspflichtig sind. Gemäss dem Epidemiengesetz (Bundesgesetz über die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten des Menschen) kann zudem der Bundesrat bei einer besonderen Gefährdung der öffentlichen Gesundheit und nach Anhörung der Kantone «Massnahmen gegenüber der Bevölkerung» treffen. (BV Art.118 Abs.2 b.)

Überhaupt bildete der Widerstand gegen Corona und gegen den Bundesrat auf dem Bundesplatz eine politische Gemeinschaft sonderbarer Art. Denn alsbald mutierten die Mahnwächterinnen und -wächter zu «Freunden der Verfassung». Sie organisierten seither – teilweise mit den sogenannten Freiheitstrychlern – in fast allen Kantonen Events, Coronatribunale, Kundgebungen, Demos, Wortgottesfeiern und alles zusammen unter dem Titel «Demonstrationskalender für unsere Freiheit».

Im «Nebelspalter» – und, was nun folgt, ist kein Witz – und sogar in der «NZZ» werden die «Verfassungsfreunde» hochgejubelt. Der Verein sei «eine neue Grossmacht in der direkten Demokratie der Schweiz». Seit 1848 haben allerdings nur das Volk und die Stände das Sagen. Da wollen wir doch mal schauen, was denn die Medien dazu bringt, die Verfassungsfreunde zu bejubeln. Auf der Website https://verfassungsfreunde.ch/de/news/ liest man etwa: «Freiheit ist die unerlässliche Voraussetzung für das Glück des Menschen. Doch die Freiheit und die Demokratie sind in Gefahr. Sie werden bedroht von einer immer engeren Verflechtung von Staat und Konzernen.»

Das ist der harmlose Ingress auf der Website. Sie ist ein Fundus an Erklärungen über das Wirken finsterer Mächte, an selektivem Wahrnehmungsvermögen und belegfreiem Unsinn. Die Verfassungsfreunde huldigen der ultimativen Freiheit und sie bekämpfen gleichzeitig die verfassungsmässigen Organe wie Bundesrat und Bundesversammlung.

Solche Freunde und Freundinnen hat die Bundesverfassung nicht nötig, denn sie wird von Genossinnen und Genossen getragen - von der Schweizerischen Eidgenossenschaft.

OSWALD SIGG

JOURNALIST, EHEMALIGER BUNDESRATSSPRECHER [email protected]


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