Auch das ist die «Grande Nation»

  29.04.2022

Frankreich ist heute politisch gespalten und sozial verwahrlost. Am Wahlabend gelobte Emmanuel Macron seinen Willen, Frankreich zu erneuern. «Wir lassen niemanden am Wegrand stehen.» Es klang wie ein Sorry gegenüber den Randständigen. Nach der Gelbwesten-Krise, als Zehntausende gegen die Benzinpreise protestierten und später die direkte Demokratie propagierten, liess der Präsident «Le grand débat» vom Stapel. Überall im Land wurde diskutiert mit der Folge, dass der 400’000-seitige Bericht im Archiv der Nationalbibliothek landete. Gemäss NZZ ein folgenloses Politspektakel.

Die Roma hatten dabei keine Rolle gespielt. Obschon sie seit 500 Jahren in den Vorstädten von Paris in «illegalen» Bidonvilles hausen und heute noch von der CRS – dem nationalen Polizeikorps – im Auftrag des Präfekten des Départements verfolgt werden. Morgens um 6 Uhr werden die Roma jeweils samt Grossmüttern, Kindern und Hunden in dunkelblauen Bussen abgeholt und für wenige Wochen in alte, leer stehende Hotels verfrachtet und dann ihrem Schicksal überlassen. Die leeren Bretterverschläge werden amtlich zerstört.

In Paris gibt es seit jeher obdachlose Menschen, welche tagsüber in der Metro hausen und ansonsten auf der Strasse leben… und gelegentlich auch sterben. Die Wohnungsnot ist gross. Vier Millionen Menschen leiden darunter. Während sich die prekäre Lage stabilisiert, befürchtet man, dass die Regierung die Winterpause für die mittellosen Bewohner nicht verlängert. Tausende von Familien könnten auf der Strasse landen. Saadia, eine kleine Frau von 67 Jahren, sagt: «Der Hauswart hat mich davor gewarnt, dass der Hausbesitzer mir per Ende März kündigen werde.» Sie wird auf der Strasse landen – sie, die sich ein Leben lang abgerackert hat und jetzt eine Rente von monatlich 800 Euro erhält, während die Miete 700 Euro kostet. Auch Tarafi (70) hat eben die Kündigung erhalten. «Meine Frau, mein Sohn und ich landen auf der Strasse!» Seine Familie wird seit Jahren zwischen verschiedenen Provisorien hin und her geschoben. Der 31. März ist auch der Termin, an welchem jeweils die Zwangsräumungen von Tausenden von Haushalten anstehen.

Ganz ähnlich ergeht es den gerichtlich abgewiesenen Flüchtlingen. Zwar hatte der französische Präsident 2017 versprochen, die Migranten und Migrantinnen in seinem Land würdig zu empfangen. Aber abgewiesene Flüchtlinge werden unwürdig – wie Kriminelle – durch die CRS ausgeschafft. In den letzten Jahren gab es mitten in Paris «illegale Lager» von Tausenden von Flüchtlingen – oft aus Ländern der «Françafrique». Jetzt sind sie verschwunden und die Grünflächen und Autobahnränder sind wiederhergestellt nach der Devise: aus den Augen aus dem Sinn. Für Virginie Monvoisin, Dozentin an der Managementschule in Grenoble, gehören Konzentration und Spekulation mit dem Hauseigentum zu den Ursachen der Wohnungsnot. Seit 2015 sind die Immobilienpreise um 26 Prozent gestiegen. Das Wohnen als Beweis wachsender Ungleichheit zeigt der Umstand, dass 50 Prozent der wohlhabendsten Haushalte 92 Prozent des Finanz- und Immobilienvermögens besitzen. Diese Entwicklung geht einher mit dem Rückgang des sozialen Wohnungsbaus. Derzeit gibt es 2,2 Millionen Haushalte auf der Warteliste für eine Sozialwohnung. In acht Jahren ist die Nachfrage um 20 Prozent gestiegen, die Bevölkerung um lediglich 2,8 Prozent gewachsen.

Und schliesslich: Frankreich hat im EU-Vergleich eine mittlere Jugendarbeitslosigkeit von 16,4 Prozent und die fünfthöchste allgemeine Arbeitslosigkeit von 7 Prozent. Das «Beschäftigungsprogramm» – in Deutschland Hartz IV – heisst in Frankreich RSA (Revenu de Solidarité Active). Emmanuel Macron forderte im Wahlkampf, dass die arbeitslosen RSA-Empfänger/innen sich doch aktiv nach einer «normalen Arbeit» in einem Gewerbe- oder Industriebetrieb umschauen sollten, um dort 20 Stunden pro Woche zu arbeiten.

Sein Vorschlag stehe schon im Gesetz, hielt man ihm entgegen.

Der Präsident – er steht nicht über dem Gesetz, aber manchmal daneben.

OSWALD SIGG

JOURNALIST, EHEMALIGER BUNDESRATSSPRECHER [email protected]

(Quellen: Humanité, Le Monde, NZZ, Le Temps/März 2022)


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