Den Krieg nicht verdrängen

  25.03.2022 Kolumnen, Politik

Seit dem 24. Februar herrscht Krieg in der Ukraine. Europa bewegt sich zwischen Ohnmacht und Anteilnahme. Wieder ist von Notvorrat die Rede – meine Frau und ich waren vergangene Woche im Coop-Supermarkt und als wir den Vorrat zu Hause verstauten, wunderte sich der junge Nachbar: «Das ist aber nicht euer Ernst?»

Mein Vater wurde 1893 geboren und starb 1972. Er hatte zwei Weltkriege als Soldat in der Schweizer Armee – im Aktivdienst – miterlebt. 1939, kurz vor Kriegsausbruch, heirateten meine Eltern. Meine Mutter hatte als Serviertochter im Bahnhofbuffet Zürich gearbeitet. Im Frühling des Kriegsjahrs 1944 kam ich zur Welt – ein Urlaubskind.

Am 8. Mai 1945 war der zweite Weltkrieg zu Ende und der Kalte Krieg begann. Am 5. März 1953 starb Josef Stalin. Am Gartentor sagte jemand zum Vater: «Jetzt gibt es wieder Krieg». Als Studenten in Budapest den Volksaufstand vom Oktober 1956 anzettelten, liess die kommunistische Regierung in die Menge schiessen. Schon im November wurde die ungarische «Oktoberrevolution» durch Panzer der Ro ten Armee kurzerhand plattgewalzt. 10’000 ungarische Flüchtlinge fanden in der Schweiz Aufnahme. In Zeitungen und im Radio sprach man von einer starken Welle der Solidarität.

Am 13. August 1961 begannen Volksarmisten in der DDR mit dem Bau der Mauer. Ost- und Westberlin wurden getrennt. Die Länder des Warschauer Pakts errichteten entlang ihrer Grenzen zum Westen den Eisernen Vorhang. Erst als die Mauer am 9. November 1989 fiel, verbreitete sich in Europa die Gewissheit vom nahen Ende des Kalten Kriegs.

Und jetzt, nach knapp 33 Jahren, beginnt ein Krieg, in dem der Aggressor erst einmal mit Atomwaffen droht, dann das Wort «Krieg» verbietet und seither täglich in der Ukraine Tod und Schrecken verbreitet. Mit Folgen für ganz Europa – die Schweiz inklusive.

Als Jean Ziegler – damals Soziologiedozent an der Universität Bern – die Bahntransporte von Kriegsmaterial vom braunen Deutschland durch die Schweiz nach dem faschistisch regierten Italien öffentlich kritisierte, bat ich meinen Vater um Aufklärung. Er hatte doch in Schaffhausen an der deutschschweizerischen Grenze seinen Militärdienst verrichtet … er musste es wissen. Aber er schwieg. Auch später blieb er bei derselben Frage mit gepressten Lippen wortlos.

Als Deutschlands Aussenminister Heiko Maas am 8. Mai 2020 – 75 Jahre nach dem Kriegsende – von den «sowjetischen Opfern des 2. Weltkriegs» sprach, nahm das Dmytro Rasumkow, ukrainischer Parlamentspräsident, in einem Interview mit der «Welt» noch gelassen. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hingegen dokumentiert dazu: «Es erstaunt, wie wenig über die Geschichte der Ukraine in der deutschen Öffentlichkeit bekannt ist. … Durch die Gleichsetzung der 1991 aufgelösten Sowjetunion mit Russland werden andere postsowjetische Länder häufig ausgeblendet.»

Und dies, obschon «die deutsche Wehrmacht während des Zweiten Weltkriegs eine Spur der Verwüstung in der Ukraine hinterliess. Dabei ermordeten die Nazis anderthalb Millionen Menschen, darunter Juden, Roma, Menschen mit Behinderung und Kriegsgefangene.»

Auch Andrij Melnyk, Botschafter der Ukraine in Berlin, sah – in einem Interview am 8. Mai 2020 mit dem «Deutschlandfunk» zum Stellenwert des 8. Mai 1945 für sein Land – «einen riesigen blinden Fleck im historischen Gedächtnis Deutschlands. Die Ukraine verlor im deutschen Vernichtungskrieg ein Viertel ihrer Bevölkerung. Von etwa 40 Millionen Kriegstoten in Europa war jedes fünfte Opfer ein Ukrainer oder eine Ukrainerin. … Deutschland muss sich seiner historischen Verantwortung gegenüber der Ukraine stellen und diese dunkelsten Kapitel ihrer Geschichte endlich aufarbeiten.»

Den Krieg des Wladimir Putin wird man dereinst kaum verdrängen können. Wolodimir Selenski spricht überall Klartext. Letzthin sagte er in einem Videoauftrtitt vor Knesset-Abgeordneten: «Hört euch die Worte des Kremls genau an, sie benutzen Nazi-Terminologie. Sie nannten es die Endlösung der jüdischen Frage.» Heute versuche Russland, «die Ukraine auszulöschen».

OSWALD SIGG JOURNALIST, EHEMALIGER BUNDESRATSSPRECHER [email protected]


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