«Die Selbstzerstörungskräfte im Tourismus sind nicht neu»

  05.05.2022 Destination

Der neuste UN-Klimabericht attestiert einen Fortschritt. Das geht auch auf die Bemühungen von mittleren bis kleinen Unternehmen zurück. Hier ist auch Gstaad Saanenland Tourismus (GST) engagiert. GST will neben eigenen Massnahmen auch die Dienstleister in der Destination bei ihren Bemühungen unterstützten, nachhaltiger zu werden.

BLANCA BURRI

Was tun Sie, um nachhaltig zu sein?
Patrick Bauer (PB):
Da gäbe es bereits viel zu erzählen, unter anderem habe ich kein eigenes Auto, nutze ÖV und fahre jeden Tag mit dem Elektrovelo von Zweisimmen nach Gstaad zur Arbeit. Natürlich mache ich das nicht nur wegen der Nachhaltigkeit, sondern auch, weil es mir Gelegenheit gibt, mich zu bewegen und abzuschalten. Oder ich brauche Produkte möglichst lange. Statt bei jedem Release beispielsweise ein neues Smartphone zu kaufen, behalte ich das alte länger …
Hansruedi Müller (HRM): Ich habe ein GA und versuche, so oft wie möglich mit dem ÖV zu reisen – auch heute hierher. Damit steht mein Hybridauto oft unbenutzt in der Garage. Seit 1992, als ich zum ersten Mal über den Klimawandel sprach, habe ich mir vorgenommen, nicht öfter als dreimal pro Jahr zu fliegen. Drei Flugreisen pro Jahr mag nach viel klingen, aber als Professor, der sich mit der Welt vernetzen sollte, und mit einer Gattin aus Indien ist dieser Vorsatz mit vielen Einschränkungen verbunden. Ich bin meinem Vorsatz stets treu geblieben – bis heute. Das habe ich erreicht, indem ich die Kongresse sehr bewusst ausgewählt und die geschäftlichen Reisen oft mit Ferien verbunden habe. In Europa habe ich nur Engagements angenommen, die mit dem Zug erreichbar waren.

Wo kann sich Gstaad Saanenland Tourismus als Organisation verbessern?
PB:
(lacht) Mir kommt da spontan gerade unsere Nespresso-Kaffeemaschine in den Sinn. Wenn sie den Geist aufgibt, werden wir ein Bohnenkaffeegerät kaufen. Dies ist aber nur eine der Massnahmen. Wir erstellen gerade im Team unseren Massnahmenplan für das Swisstainable-Programm des Schweizer Tourismusverbands für die nächsten zwei Jahre. Ein grösseres Thema ist die Fahrzeugflotte, die wir, wo es Sinn macht, mit Elektrofahrzeugen ersetzen möchten.

Und welchen Strom kauft GST ein?
PB:
BKW Ökostrom! Aber inzwischen gibt es noch grüneren Strom, deshalb klären wir ab, ob wir das Abo wechseln wollen.

Hansruedi Müller, Sie befassen sich seit 30 Jahren mit Nachhaltigkeit. Inwiefern hat sich die Wahrnehmung verändert?
In jüngerer Zeit hat dieses Thema klar eine viel breitere Präsenz. Die Debatte wurde zwar etwas verdrängt von der Pandemie und vom Ukraine-Krieg, aber die Ernsthaftigkeit des Themas wurde in vielen Kreisen verstanden. Das war früher nicht so. Ich bezeichne den Brundtland-Bericht, der 1987 erschienen ist, gerne als Geburtsstunde der «Nachhaltigkeit». Dieser Bericht war noch etwas abstrakt und fasste das Thema so weit, dass er viele Personen überforderte. Mit den zunehmend sicht- und spürbaren Auswirkungen des Klimawandels hat das Thema einen echten Anker erhalten. Viele Konsequenzen sind offensichtlich, beispielsweise beim Gletscherschwund, bei der Schneesicherheit oder den zunehmenden Extremwetterereignissen.

Man diskutiert also heute konkreter über Nachhaltigkeit. Ist das eine gute Entwicklung?
HRM:
Sicher ist die Diskussion notwendig. Leider wurde viel zu lange zu wenig getan. Jetzt ist es umso wichtiger, die nachhaltige Entwicklung ernst zu nehmen und Abhängigkeiten zu mindern, beispielsweise globale Abhängigkeiten. Das wurde uns während der Pandemie aufgezeigt. Oder jetzt jüngst mit dem Ukraine-Krieg. Wenn wir auf lokale und erneuerbare Ressourcen setzen, werden wir wirtschaftlich unabhängiger. Gefährlich ist das Greenwashing, wenn wir Nachhaltigkeit verwässern, statt sie auf konkrete Projekte und wirkungsvolle Umsetzungen herunterzubrechen.

Nachhaltig bedeutet: lokal produzieren und konsumieren, kurze Transportwege, wenig CO2-Ausstoss. Eigentlich steht aber Tourismus und Nachhaltigkeit in einem dauernden Spannungsfeld mit diesen Werten, weil Tourismus per se nicht nachhaltig ist.
HRM:
Die Selbstzerstörungskräfte im Tourismus sind nicht neu. Sie wurden bereits 1974 vom Schweizer Tourismusforscher Jost Krippendorf in den «Landschaftsfressern» aufgegriffen. Tourismus lebt in der Tat von der Mobilität und diese hat immer mit Energieverbrauch zu tun. Deshalb tut sich der Tourismus schwer, ein ernsthaftes Commitment abzugeben. Gerade Fluggesellschaften oder Tour Operators. Auch viele Destinationen pushen Fernmärkte, obwohl die potenziellen Gäste mit Langstreckenflügen in die Schweiz gelangen. Auch beispielsweise für den Wintertourismus mit seinen notwendigen landschaftlichen Eingriffen, mit Beschneiungsanlagen oder den Pistenpräparierungen ist Nachhaltigkeit eine grosse Herausforderung. Und derartige Konfliktfelder gibt es viele.

Gibt es überhaupt den nachhaltigen Tourismus?
HRM:
Als Tourismusform? Nein! Hingegen können wir nachhaltige Entwicklungen fördern. Das kann auch eine Airline, ein Hotel oder eben Gstaad Saanenland Tourismus.

Eine nachhaltige Entwicklung zielt – überspitzt gesagt – auf gesunde Unternehmen mit glücklichen Mitarbeitenden in einer intakten Umwelt ab. Was kann der Tourismus beitragen?
HRM:
Es gibt unzählige Ansatzpunkte und alle Leistungsträger können ihren Beitrag leisten. Es wäre sehr wichtig, das Thema in unserer Destination ernst zu nehmen, und zwar im Zusammenhang mit vielen Aspekten wie dem Umgang mit der Landschaft, dem Wasser oder dem Abfall, den Arbeitsbedingungen, aber auch dem Einbezug der Bevölkerung, wie auch der Wertschöpfung, der Rentabilität oder den Innovationen. Es muss eine Entkoppelung geben von Wachstum und Ressourcenverbrauch. Nur ein Wachstum, das mit einem geringeren Einsatz von nicht erneuerbaren Ressourcen und im Einklang mit Mensch und Natur erreicht wird, ist nachhaltig.

Wo steht die Destination Gstaad heute im Vergleich zum Alpenraum?
HRM:
Wir haben einen sehr wohlhabenden Tourismus in einer Premiumdestination mit einem eigenen Flugplatz und vielen Luxushäusern, die per se einen anderen Ressourcenverbrauch haben als andere Tourismusformen. In Tourismusdestinationen wie beispielsweise dem Emmental ist der Ressourcenverbrauch kleiner. Deshalb ist es sehr gut, dass sich Gstaad Saanenland Tourismus der Nachhaltigkeit annimmt. Das Bewusstsein ist bereits vorhanden. Das zeigt auch das Projekt Impact Gstaad.

Was hat sich Gstaad Saanenland Tourismus vorgenommen?
PB:
In der Destinationsstrategie verpflichten wir uns, die Nachhaltigkeit gesamthaft anzupacken. Ich zitiere: «Wir streben nach einem ausgewogenen Verhältnis zwischen Pflege und Weiterentwicklung und tragen Sorge zu Natur, Kultur und Landschaft.» Wir sind jetzt daran, alle Partner abzuholen, die sich bereits mit Nachhaltigkeit auseinandersetzen. Wir gehen das Thema systematisch an. Dabei stecken wir das Themenfeld ab, erarbeiten ein ganzheitliches Konzept und definieren die Zielvorgabe und die Massnahmen dazu. Mitunter wollen wir auch das Bewusstsein unserer Partner fördern und sie bei der Umsetzung unterstützen. Und natürlich möchten wir sie gegenseitig vernetzen.

Gibt es übergeordnete Konzepte, die Sie unterstützen?
HRM:
Wir orientieren uns an Swisstainable, einem Konzept des Schweizer Tourismus, das 2021 lanciert wurde und sich im Aufbau befindet. Das Label ist ebenso auf Betriebe ausgerichtet wie ab diesem Herbst auch auf Destinationen – Gstaad dient als Testregion. Swisstainable animiert Destinationsmanagementorganisationen (DMO), gemeinsam mit Gemeinden und Partnern in der Nachhaltigkeitsentwicklung vorwärtszumachen.

Was sind die drei wichtigen Punkte von Swisstainable?
HRM:
Es gibt zwölf wichtige Punkte! (lacht) Aber wir können sie in die drei Bereiche Umweltverantwortung, Sozialverträglichkeit und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zusammenfassen. Die Landschaft spielt dabei eine zentrale Rolle, weil der Bergtourismus von einer schönen Landschaft lebt. Aber es geht noch weiter: Ressourcen sollen geschont werden und die Qualität des Wassers soll erhalten bleiben. Auch die Traditionen müssen weiter gepflegt werden. Deshalb finde ich es sehr gut, dass man bestrebt ist, die Alpkultur zu einem Unesco-Weltkulturerbe zu erheben. Ein weiterer eminenter Punkt ist die Lebensqualität. Sie soll unbedingt erhalten bleiben, damit die Bergtäler attraktiv bleiben.

Mit Impact Gstaad hat die Region bereits eine Organisation, die sich mit Nachhaltigkeit beschäftigt. Wer hat welche Rolle?
PB:
Impact Gstaad ist eines von vielen guten Nachhaltigkeitsprojekten, die es in der Destination bereits gibt. Gstaad Saanenland Tourismus spannt das Netz über all jene Projekte. Übrigens ist Impact Gstaad sehr spannend, weil es wohlhabende Gäste aus der Destination, die sich nachhaltig einbringen oder nachhaltige Projekte mitfinanzieren wollen, mit innovativen Projekten im Saanenland, aber auch weltweit, verbindet.

Welches Projekt in Gstaad macht Ihnen bereits grosse Freude?
HRM:
Der Ranger im Lauenenseegebiet gehört sicher dazu. Er zeigt den Besuchern einerseits die Einzigartigkeit des Naturschutzgebietes und schützt es andererseits durch seine Präsenz. Das ist ein gutes Beispiel, vor allem deshalb, weil der Rangerdienst keine grossen Investitionen erfordert, sondern mit einem übersichtlichen Budget und ohne grosse Veränderungen vor Ort viel bewirken kann.

PB: Im kommenden Sommer bauen wir den Rangerdienst übrigens aus. Man wird sogar Führungen anbieten.

Wie steht es mit dem Neubauprojekt von Familie Mottier in Château-d’Oex? Dort werden Landwirtschaft, Naturheilkunde und Tourismus vereint und man trägt zur wirtschaftlichen Entwicklung der Region bei.
PB:
Zwar liegt dieses Projekt nicht im Saanenland, aber hier geht es genau um unsere Themen. Die darin enthaltenen Aspekte sind sehr schön, aber das Projekt ist sehr komplex und umfangreich, Ich bin gespannt, ob alles umgesetzt wird.
HRM: Ich finde die Nachhaltigkeitsbestrebungen des The Alpina mit dem Gold-Zertifikat von EarthCheck auch sehr lobenswert. Ein führendes Fünfsternehotel verschreibt sich auf seine Art der Nachhaltigkeit, indem es eine Zero-Waste-Pasta serviert, in der Küche kein Plastik verwendet, eigene Bienenvölker hält, am Fernwärmenetz angeschlossen ist, Nachhaltigkeitsworkshops durchführt und vieles mehr. Das The Alpina erhielt übrigens das strengste Swisstainable-Label «leading», wobei zu erklären ist, dass das Swisstainable über die drei Levels committet, engaged und leading verfügt.

Wie gehen Sie mit dem Widerspruch um, dass Fünfsternehäuser, die einen grossen Ressourcenbedarf haben, eine führende Nachhaltigkeitsrolle übernehmen?
PB:
Natürlich ist es eine Herausforderung, Luxus und Hochqualitätstourismus mit Nachhaltigkeit zu verbinden. Sie geben sich der Tatsache nicht einfach hin, dass ihre Gäste mit konsumfreudigen Autos und Flugzeugen reisen, sondern versuchen, Einfluss zu nehmen, wo sie können.

Wo sehen Sie die Destination in zehn Jahren?
HRM:
Ich hoffe, dass die Landwirtschaft weiterhin prägend ist und viele Traditionen erhalten bleiben. Ich hoffe, dass sich das Mobilitätsverhalten stark verändert hat und statt Verbrennungsmotoren nur noch erneuerbare Energien verwendet werden, auch von den Privatflugzeugen. Ich wünsche mir, dass der ÖV eine tragende Rolle spielt und hoffe, dass alle Leistungsträger inklusive GST ihre Hausaufgaben gemacht haben, und nur noch zwar lustvolle und erlebnisreiche, aber öko-effiziente und sozialverträgliche Ferien anbieten.
PB: Schön ist halt, dass die Bevölkerung von Gstaad offen für Veränderungen ist und deshalb viel zum guten Gelingen beiträgt.

swisstainable: www.stnet.ch/de/swisstainable/ programm


ZUR PERSON

Der 75-jährige Hansruedi Müller ist in Buchs SG geboren, wohnt aber in Bern. Als Professor für Tourismusökonomie leitete er von 1989 bis zu seiner Emeritierung 2012 das Forschungsinstitut für Freizeit und Tourismus (FIF) der Universität Bern, war 2005 bis 2015 Präsident von Swiss Athletics und präsidierte in dieser Zeit auch den Verwaltungsrat der Leichtathletik-EM Zürich 2014. Seit 2020 ist er Vorstandsmitglied von Gstaad Saanenland Tourismus. Er ist seit 50 Jahren verheiratet, hat zwei Kinder und drei Enkelkinder. In seiner Freizeit liest, wandert und reist er gerne. Beratung gehört zu seinen Kernkompetenzen.


GREENWASHING

Gemäss Duden ist Greenwashing ein Versuch (von Firmen, Institutionen), sich durch Geldspenden für ökologische Projekte, PR-Massnahmen o. Ä. als besonders umweltbewusst und umweltfreundlich darzustellen.


ZUR PERSON

Patrick Bauer stammt aus Basel und lebt in Zweisimmen. Er hat familiäre Wurzeln an der Lenk und war darum bereits als Kind oft in der Region. Das Studium der Wirtschaftswissenschaften absolvierte er an der Universität in Basel (u.a. Umweltökonomie). Die Ausbildung zum Schneesportlehrer machte er im Alpinzentrum in Saanenmöser. Danach wurde er Geschäftsführer bei Zweisimmen Tourismus. Seit 2013 ist er in verschiedenen Funktionen im Bereich Produktmanagement und Destinationsentwicklung von Gstaad Saanenland Tourismus, aktuell Leiter Destinationsentwicklung und Nachhaltigkeit. Der 45-Jährige ist geschieden und Vater von drei Kindern im Alter von 19,17 und 10 Jahren. Er verbringt viel Zeit in der Natur, liest gerne und befasst sich mit Kunst und Kultur.


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