Eine Reise nach Ost-Berlin (Teil 1)

  29.07.2022

Ende der 80er-Jahre verbrachte ich eine kurze Zeit als Redaktionsleiter der Schweizerischen Depeschenagentur (SDA) in der Berner Länggasse. Dort, wo es jeweils noch sanft nach dunkler Tobler-Schokolade duftete. Die den Zeitungsverlegern gehörende SDA stand schon damals in einer prekären wirtschaftlichen Situation, weil sie bedrängt wurde von der SPK (Schweiz. Politische Korrespondenz). Diese Nachrichtenagentur wurde ihrerseits von der Wirtschaftsförderung (heute Economiesuisse) betrieben und ab Mitte der 1980er-Jahre personell und technisch stark ausgebaut. Die SPK eröffnete mehrere Regionalredaktionen, um ihr Angebot näher an die regionalen Medien (Zeitungen, Radios, später TV) zu bringen, sodass die SDA bald begann, einige ihrer Stammkunden zu verlieren.

Meines Erachtens war die Depeschenagentur – als nationale schweizerische Nachrichtenagentur – vom Bund zu wenig unterstützt worden. Die Verleger im Verwaltungsrat empfanden jegliche Erhöhung der Bundes-Subventionen an die SDA – die ohnehin nur gerade die Teilfinanzierung der italienischsprachigen Redaktion betrafen – vollkommen überflüssig. Der Verwaltungsrat war gegen eine staatlich unterstütze Agentur – wie es etwa die DPA (Deutschland), die AFP (Frankreich), die ANSA (Italien) oder die APA (Österreich) waren. Dabei gab es in Europa nur eine rein staatliche Nachrichtenagentur, wenn man den Ostblock hinzu zählte: nämlich den Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienst (ADN) in Ost-Berlin (DDR). Ennet der Berliner Mauer. Die ADN hatte denselben zweifelhaften Ruf wie die sowjetrussischen Agenturen Tass und Novosti.

Seit 1965 war ich etwa alle zwei Jahre jeweils für wenige Tage mit der Bahn nach West-Berlin gefahren, um dort meinen Freund Martin zu besuchen. Für den Herbst 1989 war wieder eine solche Reise nach Berlin geplant. Ein Jahr zuvor, als ich Martin meinen Besuch wie immer in einem ausführlichen Brief ankündigte, lag ein paar Tage später der ungeöffnete Briefumschlag mit dem Aufkleber der Deutschen Bundespost «Adressat verstorben» im Briefkasten. Im Gedenken an meinen Freund unternahm ich die geplante Reise dennoch, nutzte sie aber auch, um seit Langem vereinbarte Gespräche mit der DPA und der ADN zu führen. Neun Tage nach dem Fall der Mauer (9. November 1989) fuhr ich mit dem Bus in die Nähe des Bahnhofs Friedrichsstrasse. Dort gab es einen bis anhin stark frequentierten Grenzübergang. Das ADN-Hauptgebäude lag an der Mollstrasse 1, in der Nähe des Rosa-Luxemburg-Platzes – ungefähr drei Kilometer entfernt. Dorthin ging es dann zu Fuss, weil der Buschauffeur in der Nähe der Mauer alle Fahrgäste «aus betrieblichen Gründen» bat, auszusteigen. Der Weg führte durch die notdürftig geöffnete Mauer hindurch. Auf der Strasse Stau in beiden Richtungen. Es lagen überall Sektkorken und Feuerwerküberreste herum – fast wie bei uns zu Hause am 2. August.

Unterwegs sah man am Eingang zum Kaufhaus Centrum einen grossen Stapel neuwertiger Bücher mit der Anschrift: «WARE ZU REDUZIERTEM PREIS». Die Bücher trugen alle denselben Titel: «DIE VERFASSUNG DER DEUTSCHEN DEMOKRATISCHEN REPUBLIK.»

Eine gute Stunde später, im Empfangsraum des ADN-Gebäudes, sagte mir eine diskret uniformierte Dame: «Der Herr Generaldirektor Pötschke kommt sogleich.» Nach fünf Minuten schon schaute ich ungeduldig nach oben in der Annahme, der Mann würde im obersten Stock residieren. Aber plötzlich kam der Lift von unten her, Herr Pötschke grüsste flüchtig, hielt die Lifttür offen und bat mich zuzusteigen. Dann fuhren wir ins zweite Untergeschoss. Dort befanden wir uns in einer holzgetäferten Bunkeranlage. Sie glich dem Bundesratsbunker im Berner Oberland. Der Generaldirektor erklärte: «Wissen Sie, wir befinden uns seit ein paar Tagen in unmittelbarer Kriegsgefahr.» (Fortsetzung folgt)

OSWALD SIGG JOURNALIST, EHEMALIGER BUNDESRATSSPRECHER [email protected]


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