Es ist diesmal ein Blick in eine traurige Welt.

Seit der Schliessung des Rot-Kreuz-Flüchtlingscamps von Sangatte (nahe der nordfranzösischen Hafenstadt Calais) im Jahr 2002 gibt es in dieser Region improvisierte Zeltsiedlungen. Man sprach vom «Dschungel von Calais». Darunter befindet sich der Eurotunnel. Täglich reisen hier über 50’000 Passagiere zwischen Calais und Dover.

2015 wurde Utopia56 – eine freiwillige Hilfsaktion für Flüchtlinge – gegründet. Heute sind vor Ort Tag und Nacht über 200 freiwillige Helferinnen und Helfer tätig. Hier der Bericht über den jüngsten Einsatz im Utopia56-Newsletter vom 23. Juli 2023 (Übersetzung aus dem Französischen):

1.45 Uhr: Der Wecker klingelt. Das Team der freiwilligen Hilfsaktion für Flüchtlinge bereitet sich vor. Das Auto ist vollgepackt mit Rettungsdecken, Kleidern, Schuhen, Wasser, Tee, Kuchen. Das reicht, um 100 Menschen zu helfen.

Jede Nacht machen sich zwei Freiwillige und ein bezahlter Assistent auf den Weg zwischen Dunkerque (Dünkirchen) und Le Touquet-Paris-Plage. Hin und zurück – fast 300 Kilometer. Ziel ist es, an der Küste entlang zu fahren, um Schiffbrüchigen Nothilfe zu leisten, die Behörden zur Einhaltung eines Begleitprotokolls zu bewegen und den Polizei- und Gendarmeriediensten klar zu machen, dass wir ihre Arbeit beobachten.

5.00 Uhr: Das Team kommt am Strand von Ambleteuse an. Während zwei offene Jeeps der Police Nationale am Strand ihre Runden machen, versucht einige Dutzend Meter weiter unten ein Boot mit rund 50 Personen an Bord durch den Strudel der ersten Wellen zu kommen. Nur die Hälfte trägt Schwimmwesten. Das Team ruft die Küstenwache an, um sie über die Abfahrt zu informieren und sicherzustellen, dass die Situation verfolgt wird. Nach etwa 15 Minuten verschwindet der schwarze Punkt in der Ferne. Später erfahren wir von den britischen Behörden, dass sie drüben angekommen sind.

Nach einer halben Stunde, am kleinen Bahnhof von Wimereux, warten etwa 40 Personen aus dem Iran auf den Zug. Wir verteilen Tee, Sardinen, Brot und die Notrufnummer der Teams in Calais und Grande-Synthe. «Wenn Sie ein Problem an Land oder auf See haben, können Sie uns rund um die Uhr erreichen.» Das steht auf unserem Flyer.

Viele sprechen ein perfektes Englisch. Einer der jungen Männer hat eine Tätowierung am Hals: «Freedom».

Einige Kilometer weiter treffen wir an einer Bushaltestelle auf sechs Personen. Eine von ihnen war am Vortag vom Team aus Grande-Synthe ins Krankenhaus begleitet worden. Nach einigen Minuten treffen mehrere Polizeiautos am Ort des Geschehens ein. Sie durchsuchen die Personen, öffnen die Taschen und lassen sie dann wieder gehen. Ein Mann aus Afghanistan spricht etwas Französisch. Er hat Asyl erhalten. Er erklärt, dass seine Frau vor neun Monaten zu ihm gekommen sei, aber aufgrund des «Dublin»-Verfahrens keinen Asylantrag in Frankreich stellen könne. Sie hätten beschlossen, erneut alles hinter sich zu lassen, um gemeinsam nach Grossbritannien zu reisen.

10.00 Uhr: 70 Menschen, darunter etwa zehn Kinder, wurden aus dem Meer gerettet. Der Motor war ausgefallen und das Boot leckgeschlagen. Nach zwei Stunden Wartezeit trafen schliesslich die Rettungskräfte ein, bevor sie sie völlig durchnässt im Hafen von Calais absetzten. Das Team aus Calais ist bereits vor Ort, wir verteilen Dutzende von Kleidungsstücken, Tee und Kuscheltiere für die Kleinsten. Trotz unserer Appelle an die Unterpräfektur wird nichts für diese Menschen unternommen oder in die Wege geleitet.

Es ist Mittag, die Hilfsaktion endet für heute. Das Team hat etwa zehn CRS-Vans, mehrere Autos der Gendarmerie und der Grenzpolizei, Motorräder und Buggys getroffen. Wir werden uns an das Lächeln, die Dankbarkeit und die Widerstandsfähigkeit der Menschen erinnern, denen wir begegnet sind.

Gleichzeitig hat das Vereinigte Königreich ein Gesetz verabschiedet, das es illegal eingereisten Personen verbietet, einen Asylantrag zu stellen: «Alle werden inhaftiert und zurückgeschickt.» Aber: In den letzten Jahren erhielten mehr als 70 Prozent der Menschen, die den Ärmelkanal nach Grossbritannien überquerten, Asyl.

Diese Woche sind es 1500 Personen, welche das Vereinigte Königreich über den Ärmelkanal erreicht haben. Und ebensoviele Menschen haben die gegenüberliegende Küste nicht erreicht. Deshalb wird auch morgen wieder – wie jeden Tag – die freiwillige Hilfsaktion ihrer Arbeit nachgehen.

Frankreich und das Vereinigte Königreich leisten sich hier einen Zynismus sondergleichen: Mit dem Eurotunnel gäbe es für alle Flüchtlinge eine sichere Verbindung zum Land ihrer Träume.

OSWALD SIGG

JOURNALIST, EHEMALIGER BUNDESRATSSPRECHER
oswaldsigg144@gmail.com

Fluchtroute Ärmelkanal

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