«Für mich stand immer der Mensch im Zentrum»

  30.05.2022

Ende Mai gibt Gerichtspräsident Thomas Hiltpold, Zivilrichter und Vorsitzender der Geschäftsleitung am Regionalgericht Oberland, den Schlüssel zu seinem Büro ab und geht vorzeitig in Pension. Thomas Hiltpold spricht über seine Erfahrungen und Erinnerungen.

PETER SCHIBLI
Mit Thomas Hiltpold (62) verlässt der amtsälteste Richter das Regionalgericht Oberland. Vor 31 Jahren war er in einer Volkswahl an das damalige Richteramt Thun gewählt worden. 1997 übernahm Hiltpold die Geschäftsleitung. In seinen 25 Jahren als Zivilrichter erledigte er rund 1800 Scheidungsverfahren. Woher die Parteien stammten, die vor ihm sassen, war für ihn nie wichtig. «Für mich stand immer der Mensch im Zentrum», betont Hiltpold. Deshalb lassen sich die geschilderten Fälle auch nicht einem Dorf, einem bestimmten Tal oder einer Region zuordnen. Sie könnten sich aber sehr wohl im Saanenland zugetragen haben.

Thomas Hiltpold, wie fühlen Sie sich wenige Tage vor der Pensionierung?
Ich habe ambivalente Gefühle. Einerseits freue ich mich sehr auf die Zeit danach, aber ich weiss auch, was ich hier zurücklasse. Ich werde meine Kolleginnen und Kollegen und meine Arbeit vermissen. Aber die Freude auf das Neue überwiegt.

Was lassen Sie zurück?
Als Geschäftsleiter eines Regionalgerichts hat man die Verantwortung, zu schauen, dass der Betrieb funktioniert, dass es den Mitarbeitenden gut geht und dass die «Kundschaft» fair sowie korrekt behandelt wird. Ausserdem hat ein Geschäftsleiter die Pflicht, zu schauen, dass die Prozesse am Gericht effizient geführt werden. Dabei wird die richterliche Unabhängigkeit selbstverständlich gewahrt. Das hat mich täglich geprägt. Nun darf ich loslassen und die Verantwortung in neue Hände übergeben.

Welche speziellen Fälle sind Ihnen in den dreissig Jahren in Erinnerung geblieben?
Als Journalist interessiert Sie die Optik der Talschaft. Für mich als Richter stand immer der Mensch im Zentrum. Ob jemand aus dem Saanenland, aus dem Kandertal, aus dem Haslital oder dem Eriz kommt, war für mich nicht besonders wichtig. Die Themen, die vor unserem Gericht zur Sprache kommen, gleichen sich im Wesentlichen. In familienrechtlichen Verfahren geht es immer um menschliche Konflikte, bei denen die Geografie eine untergeordnete Rolle spielt. Als Untersuchungsrichter ist man doch sehr viel stärker tatortgebunden. In dieser Funktion, am Anfang meiner Karriere, rückte ich noch an jeden Tatort von schweren Straftaten aus. So gesehen sind die Straffälle in der Erinnerung viel stärker in eine Landschaft eingebettet als die Zivilrechtsfälle.

Gibt es spezielle menschliche Schicksale, an die Sie sich erinnern?
Ja, die gibt es, wobei mir die kleinen Begebenheiten besser in Erinnerung bleiben als die spektakulären Geschichten. Im Rahmen der Weiterentwicklung des Scheidungsrechts haben wir in den vergangenen Jahren vermehrt auch die Kinder von Scheidungswilligen in das Verfahren miteinbezogen. Das war immer spannend. Beeindruckt hat mich ein Lehrling, der kurz vor der Lehrabschlussprüfung trotz grosser Spannung zwischen den Eltern noch zu Hause wohnte und auf meine Frage, ob er nach der Scheidung ausziehen werde, antwortete: Nein, er habe noch eine jüngere Schwester, für die er sich verantwortlich fühle. Für sie werde er weiterhin zu Hause wohnen bleiben. In Erinnerung geblieben ist mir auch der Fall eines älteren Ehepaars, das über fünfzig Jahre lang verheiratet war. Die Frau wollte die Scheidung, weil sich der Mann verändert hatte und aggressiv geworden war. Sie könne mit ihm nicht mehr zusammenleben, sagte mir die Rentnerin, erklärte aber im Nachsatz, sie sei aber weiterhin bereit, für ihnen Ex-Mann jeden Tag zu kochen und ihm die Wäsche zu machen. Die menschliche Grösse dieser Frau hat mich sehr beeindruckt.

Wie kämpferisch geben sich Scheidungswillige, wenn es ums Geld geht?
Auch hierzu ein Beispiel: Dem Ehemann lief es schlecht, deshalb ging die Ehefrau arbeiten und man lebte von ihrem Lohn. Später änderten sich die Verhältnisse und er verdiente wesentlich mehr als seine Frau. Als es in der Scheidungsverhandlung um den nachehelichen Unterhalt ging und ich einen Betrag vorschlug, erklärte er sich – völlig gegen die Gerichtspraxis – bereit, ihr bis zum Erreichen des AHV-Alters eine Frauenrente zu bezahlen, da sie gesundheitlich angeschlagen war. Er begründete dies mit dem Satz: Seine Ex-Frau habe ihn früher auch unterstützt, nun sei es an ihm, ihr nach der Scheidung zu helfen. Diese Grosszügigkeit eines Einzelfalls ist doch sehr bemerkenswert. Diese edle Grundhaltung bildet aber klarerweise die Ausnahme.

Das Bundesgericht hat kürzlich mit einem neuen Urteil für Aufsehen gesorgt. Das höchste Schweizer Gericht befand, dass nach einer Scheidung grundsätzlich jede Seite finanziell für sich selbst aufkommen soll. Was halten Sie von dieser radikalen Praxisänderung?
Wir müssen nun abwarten, ob dies der Anfang einer neuen Praxis ist. In der Tat haben sich in den vergangenen Jahren die wirtschaftlichen Folgen einer Scheidung für die Frauen deutlich erschwert. In der ersten Instanz haben wir einen Teil dieser Entwicklung etwas vorweggenommen. Fakt ist, dass nach einer Scheidung vom hauptbetreuenden Elternteil sehr viel erwartet wird. Hier kann die erste Gerichtsinstanz noch immer korrigierend eingreifen und im Einzelfall ihren Ermessensspielraum nutzen.

Die Höhe des nachehelichen Unterhalts, die alternierende Obhut, der Einbezug der Kin- der ins Scheidungsverfahren … welche weiteren Änderungen im Scheidungsverfahren haben Sie in den vergangenen Jahren am Gericht noch erlebt?
Eine wichtige Neuerung betrifft die Gleichbehandlung der Kinder von nicht verheirateten Eltern mit denen von verheirateten Eltern bezüglich Betreuungsunterhalt. Diese Praxisänderung hat an unserem Gericht zusätzliche Abklärungen und Verfahren ausgelöst. Früher war der Kinderunterhalt einfach und durch eine Prozentregel zu definieren. Heute ist die Berechnung pro Familienmitglied individuell. Es braucht massgeschneiderte Lösungen, was sehr komplex und besonders bei Patchwork-Familien aufwendig sein kann.

Früher gab es im Berner Oberland sieben Richterämter, heute ist die erstinstanzliche Justiz an einem einzigen Standort, am Regionalgericht in Thun, konzentriert. Waren die beiden Justizreformen, an denen Sie beteiligt waren, ein Erfolg?
Positiv ist, dass die unterschiedliche Belastung der Justiz in den einzelnen Gerichtskreisen ausgeglichen werden konnte. Wir sind heute besser in der Lage, die Pflichtenhefte der Richterinnen und Richter neu zuzuteilen, wenn die Fälle beispielsweise im Strafbereich zunehmen, im Zivilbereich aber rückläufig sind. Davon profitieren die Parteien, aber auch das Gericht. Wir arbeiten heute effizienter. Ich persönlich finde es schade, dass seit der Reform viele «Thuner» Richterinnen und Richter nicht mehr im Oberland wohnen, was aber auch positive Seiten hat: Ein Richter, der nicht vor Ort, im Tal wohnt, ist grundsätzlich unabhängiger.

Wie wichtig ist für Sie richterliche Unabhängigkeit?
Sehr wichtig. In unserem Leben pflegen wir vielfältige Beziehungen: familiäre, kulturelle, wirtschaftliche, nachbarschaftliche, im Militär. In diesem Spannungsfeld muss jede Richterin, jeder Richter ein Sensorium entwickeln, ob ein Kontakt, eine Bekanntschaft, eine Freundschaft mit einer Partei ihn oder sie gedanklich beeinflusst. Wenn er das Gefühl hat, voreingenommen und nicht mehr offen zu sein, kann ein Richter den Fall an einen Kollegen oder eine Kollegin abgeben. Vor Beginn der Verhandlungen können auch die Parteien dies verlangen. Ich behaupte, dass die Unabhängigkeit der Justiz im Oberland gewährleistet ist, auch wenn ich und andere Gerichtspersonen auf Gemeindeebene in der Politik tätig sind.

Welche Folgen hatte die Coronapandemie für Ihr Gericht?
Wir haben die Lockdowns dank einer strikten Umsetzung der vom Kanton angeordneten Massnahmen gut gemeistert. Mir ist kein Fall bekannt, dass sich Menschen bei uns im Gerichtssaal angesteckt hätten. Beim Personal hatten wir erst Anfang dieses Jahres Erkrankungen wegen Omikron. Aber niemand ist schwer erkrankt. Der Rückgang der während der Coronazeit behandelten Fälle ist nicht nennenswert.

Sie haben einleitend gesagt, dass Sie sich auf Neues freuen? Was machen Sie nun nach Ihrer Pensionierung?
Es war schon immer klar, dass ich mich vermehrt der Strahlerei widmen werde. Das ist ein körperlich anstrengendes Hobby, und man muss es ausüben, solange man noch bei Kräften ist. Zum Zweiten werde ich mich mit der 22jährigen Erfahrung eines Thuner Stadtrats nun auch auf kantonaler Ebene politisch betätigen. Ich wurde bekanntlich diesen Frühling als Vertreter der Grünen neu in den Bernischen Grossen Rat gewählt.


BESTES GERICHT DER SCHWEIZ

Gerichtspräsident Thomas Hiltpold war an zwei Justizreformen beteiligt. 1997 wurde der Gerichtskreis Thun mit zwei Richterinnen und vier Richtern gebildet. 2011 führte er als Vorsitzender der Geschäftsleitung des neu geschaffenen Regionalgerichts Oberland die vier Gerichtskreise Thun, Interlaken, Wimmis und Saanen am nunmehr einzigen Gerichtsstandort auf dem Selve - Areal in Thun in einem Neubau zusammen. An der Scheibenstrasse 11 arbeiten heute sieben Richterinnen und sechs Richter, teilweise in Teilzeitpensen. 2001 wurde der Gerichtskreis Thun im Rahmen einer Umfrage der Zeitschrift «Schweizerischer Beobachter» durch ausgewählte Anwaltskanzleien zum besten Schweizer Gericht gewählt.

PETER SCHIBLI


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