Politik ist kein Game

  28.10.2022 Politik

«Ir Schwiiz chasch nid richtig ga regiere, will s Vouch seit derzue immer no Ja oder Nei.» Willi Ritschard sitzt schwitzend in seinem Büro im Bernerhof, dem Sitz des Eidgenössisches Finanzdepartements. Über seine Hermes Baby gebeugt, blickt er auf und lächelt.

Ritschard, der «Arbeiter Gewerkschafter Sozialdemokrat Bundesrat» – wie es auf der Titelseite des kleinen Buchs zu seinem 65. Geburtstag heisst – war zu seiner Zeit der populärste Bundesrat. Warum? In seinen späten Jahren und obschon er noch gut zu Fuss war, brauchte er mindestens 45 Minuten, aber oft auch eine Stunde für den kurzen Weg zum Mittagessen – vom Bernerhof bis zum Volkshaus.

Fast mit jeder zweiten Person, der er auf seinem Weg begegnete, sprach er ein paar Worte oder dann auch eine Viertelstunde – wenn es sein musste. Die meisten Leute kannte er gar nicht – aber sie kannten ihn auf jeden Fall. Sie grüssten, er grüsste zurück und fragte hie und da: «Und, wie geits euch?»

Als Willi Ritschard 1983 im Amt starb, wartete auf dem Bundesplatz vor dem Eingang zum Parlamentsgebäude eine grosse und stille Ansammlung von Menschen, um sich im Kondolenzbuch einzutragen. Vor mir stand ein altgedienter Bundeshausjournalist. Er war etwas nervös, weil sich die ungewöhnliche Übung auch zeitlich in die Länge zog. Er drehte sich zu mir und flüsterte: «Wissen Sie, im Bundesrat hat ja Ritschard nicht viel bewirkt, aber seine grosse Leistung war seine Nahbarkeit – seine Nähe zum Volk.»

Das stimmte: Ritschards Popularität war seine ureigene Leistung.

Und sie bestand im Kern aus dem Respekt vor dem Volk und vor der direkten Demokratie. In den Sitzungen mit seinen Chefbeamten predigte er bei jeder unpassenden Gelegenheit: «Dir als Bundesbeamti sit für d Bürger da – nid umgekehrt!» Die Amtsdirektoren machten lange Gesichter.

Heute erleben wir den Beginn des Übergangs von der direkten zur digitalen Demokratie. Das E-Voting wird seit Jahren geprüft und bisher ist man noch nicht wirklich fündig geworden. Noch immer schreibt die Bundeskanzlei auf ihrer Website: «E-Voting kann der direkten Demokratie möglicherweise neue Chancen eröffnen.» Was für welche? Darüber schreibt sie nicht.

Es geht nicht etwa darum, den mühsamen Gang zur Urne gewissermassen amtlich aufzuheben. Sondern man möchte den Übergang sanft und sicher gestalten, auf dass schliesslich nur noch mit dem Handy abgestimmt und gewählt werden muss. Seit Langem darf man ja auch per Post abstimmen und wählen. Per Post – dies ist dann sinnvoll, wenn jemand aus irgendeinem Grund am Gang zur Urne verhindert ist. Aber auch die Post stammt, wie unsere direkte Demokratie, aus dem vorletzten Jahrhundert und selbst solche ehrwürdigen Institutionen sind nicht mehr denkmalgeschützt. Aus unerfindlichem Grund, was das Stimmund Wahlrecht betrifft.

Denn: Politisch, technisch und punkto Sicherheit ist das traditionelle persönliche Abstimmen und Wählen dem digitalen haushoch überlegen. Der Gang zur Urne ist ein persönlicher, auch ein politischer und daher ein würdiger Akt. Wir sind das Volk. Wir regieren, wie Willi Ritschard treffend argwöhnte. Während beim digitalen Wählen und Stimmen schon mal nur das Stimm- und Wahlgeheimnis inexistent bleiben wird. Mehr noch: Bis anhin gelang es in all den Versuchsjahren nicht, das WWW als eine absolut fälschungssichere Operationsgrundlage für die eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen zu etablieren.

Kein Wunder. Das Handy – auch Smartphone genannt – wird ja nicht allein fürs Telefonieren, sondern auch und gerade als Spielkonsole gebraucht. «Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt», soll Friedrich Schiller einmal gesagt haben. Allerdings haben wir eine Staatsform, die als direkte Demokratie bezeichnet wird. Dies bedeutet, dass die Stimmberechtigten unmittelbar und endgültig über politische Fragen abstimmen und entscheiden. So etwas via Handy zu tun und somit das «politische Game» zu changen – das kann nur ein No-Go werden.

Es geht doch einfach darum, den Gang zur Urne beizubehalten, aus Respekt vor der Würde des politisch handelnden Menschen.

OSWALD SIGG

JOURNALIST, EHEMALIGER BUNDESRATSSPRECHER [email protected]


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