Auffällig unauffällig

  05.08.2022 , Kolumne, Internes

Auffällig unauffällig

JOCELYNE PAGE
Bei einem Grossanlass bewege ich mich als Journalistin stets im Hintergrund. Ich beobachte, ich höre zu und ich fange Momente ein. Beim internationalen Tennisturnier wie dem EFG Swiss Open Gstaad muss allerdings nicht nur mein Berufsstand dieses Verhalten an den Tag legen, sondern auch die Ballmädchen und -jungen, die Linienrichter, die Platzwarte, das Publikum… Na ja, eigentlich alle, ausser die Profis auf dem Court. Sie sollen sich konzentrieren können – Ruhe ist angesagt. Am Sonntag des Finals bin ich somit mit Stift, Block und Kamera auf der VIP-Tribüne umhergeschlichen. «Sei möglichst unauffällig», sagte ich mir immer wieder bei meinen leisen Selbstgesprächen. Und da: Spiel, Satz, Sieg. Der Norweger Casper Ruud beendete als Gewinner das Turnier und damit nach der Siegerehrung auch meinen Einsatz, zumindest für diesen Tag. Als Belohnung für die getane Arbeit gönnte ich mir eine leckere Mahlzeit im Tennis-Village, bei der mich mein Freund und mein kleiner Vierbeiner begleitet haben. Doch nicht nur ich hatte einen Bärenhunger, sondern auch meine Hündin: Voller Gier versuchte sie sich auf heruntergefallene Essensreste unter den Festbänken zu stürzen und erdrosselte sich dabei fast selbst, da ich die Leine entsprechend eng führte. Denn bei der Hundeerziehung zählt nur eines: konsequent sein. Vom Boden wird nichts gegessen, solange ich es nicht bewilligt habe! Allerdings gibt es da so eine Sache: Das mit der Hundeerziehung ist einfacher gesagt als getan… Eine Sekunde unaufmerksam und zack: Die freche Fellnase schlabberte an schon leicht angetrocknetem, indischem Curry. Die Schärfe des Gewürzes löste in meiner Hündin einen Schmerz aus, der sich in lautem, qualerfülltem Geheule äusserte. Kein Gebell, nein: richtiges Gekreische, als wäre ein Lastwagen über ihre Schnauze gefahren. Alle Augen der Tennisbesuchenden (ja, alle!) waren auf mich und meine heulende Hündin gerichtet, die auf meinem Schoss um Erlösung winselte. Die Blicke durchbohrten uns, die Menge fing an zu tuscheln. Fremde eilten herbei und boten ihre Hilfe an. Nach zehn Minuten liess wohl das Brennen nach, denn die Kleine beruhigte sich. So viel zu «möglichst unauffällig»…
PS: Ja, es geht ihr wieder prächtig. Und nein, sie hat nichts gelernt: Eine Stunde später frass sie ein Stück Bratwurst vom Asphalt… [email protected]


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