«Unsere Existenz ging den Bach runter»
15.07.2010 Business, SaanenDer Chalberhönibach hat am Samstag innert kurzer Zeit das Lebenswerk von Lorenz Mösching zerstört – und die Zukunft seines Sohnes Beat. Doch ans Aufgeben denken die beiden nicht – im Gegenteil.
Der Samstag, 10. Juli 2010 wird vielen im Saanenland unauslöschbar in Erinnerung bleiben. Auch Lorenz Mösching und seine Familie werden diesen Tag wohl nie vergessen. Der Schock sitzt auch vier Tage danach noch tief. Sie hätten kurz vor 16.30 Uhr noch miteinander telefoniert und er habe seinem Vater gesagt, dass es «strub» werden könnte, dass er wohl am besten im Betrieb vorbeikomme, erinnert sich Beat Mösching. Er habe schon immer Respekt gehabt vor dem Bach, betont Lorenz Mösching. «Wen er chunnt, denn rächt.» Deshalb habe er sich aufgrund der Wetterlage bei seinem Sohn, der mit seiner Familie über der Werkstatt wohnt, erkundigt. Als Lorenz Mösching wenige Minuten später seinen Betrieb erreicht, können er und sein Sohn nur noch zusehen, wie der zum reissenden Fluss angeschwollene Chalberhönibach sich seinen Weg durch die Werkstatt bahnt und sämtliche Maschinen herausspült. «Mein Lebenswerk ist futsch und ebenso die Zukunft meines Sohnes», habe er gedacht. «Unsere Existenz ging buchstäblich den Bach runter», so Beat Mösching, der am Sonntag seinen 30. Geburtstag feierte. Machtlos seien sie gewesen und «wie nes gschtores Wäxi» (Wespe) hin- und hergelaufen. «Dank dem massiven Betonbau haben wir uns wenigstens in der Wohnung im Obergeschoss sicher gefühlt», sagt Lorenz Mösching. Aber dennoch haben nur ca. 20 Zentimeter gefehlt und auch die Wohnung vom Juniorchef und seiner Familie wäre unter Wasser gestanden.
Ein drei Tonnen schwerer Findling knallte durchs Fenster
Durch die Wucht des Wassers wurde ein rund drei Tonnen schwerer Findling durch das Werkstattfenster gespült und hat die Aussenmauer schwer beschädigt. «Wie ein Bootli hat es den massiven Hobelbank, den ich zur Geschäftseröffnung vor 29 Jahren angeschafft habe, die Strasse hinuntergespült», erzählt Lorenz Mösching. Seine Firma, die Lorenz Mösching Küchenbau AG, hat Totalschaden erlitten. Bis auf zwei Montagefahrzeuge ist alles kaputt oder hat im wahrsten Sinne des Wortes Sand im Getriebe. Das Wasser in Verbindung mit dem Sand hat einzelnen Maschinenteilen den Rest gegeben. «Innerhalb von 12 Stunden hat sich bereits Rost angesetzt», so Mösching.
Zerstört wurde aber nicht nur die Werkstatt, in Mitleidenschaft gezogen wurde auch der Lagerraum und ein Teil der Produktion. «Mein Büro blieb unversehrt», so Beat Mösching. Nicht mehr brauchbar sind hingegen zwei Küchen, die zur Montage bereit waren. «Am kommenden Montag wollten wir eine dieser Küchen montieren.»
Wiederaufbau am selben Ort
Lorenz und Beat Mösching schätzen den Schaden auf eine knappe Million Franken. Aufgeben wollen die beiden nicht, im Gegenteil. Ihr Kampfgeist ist geweckt und sie wollen am gleichen Standort weiterfahren. «Wir waren daran, die Übergabe des Betriebes in die Wege zu leiten und das ziehen wir nun durch. Wir geben nicht auf, im Gegenteil, wir sind motiviert, wieder neu anzufangen», so Mösching senior. «Beat ist ein super Nachfolger, er macht einen guten Job, setzt sich ein, hilft mit, zieht am Karren. Deshalb bin ich sicher, dass wir es schaffen.»
Aufbauen wollen die beiden den Betrieb wieder am selben Standort. «Wo denn sonst?», fragt Lorenz Mösching. «Wir sind bereits daran, Maschinen zu organisieren», sagt Beat Mösching. «Sofern alles reibungslos läuft, wollen wir Ende August wieder in Produktion gehen.» Ein ehrgeiziges Ziel.
Doch vorerst ist Aufräumen angesagt, geplant waren eigentlich Ferien. «Diese Woche und letzte Woche haben wir Betriebsferien …», sagt Lorenz Mösching.
Die Solidarität funktioniert
Mit den Aufräumarbeiten hat man – wie im ganzen Gebiet – am Sonntagmorgen begonnen. «Dass man noch in der Nacht unverzüglich angefangen hat, mit den grossen Maschinen den Bach auszubaggern, hat viel geholfen», betont Lorenz Mösching und er dankt nicht nur der Feuerwehr, dem Zivilschutz oder den vielen freiwilligen Helfern für ihren Einsatz, sondern windet insbesondere den Baggerfahrern ein Kränzchen. «Sie haben hervorragende Arbeit geleistet und leisten sie noch immer.» Am Sonntag waren sämtliche Familienmitglieder samt Anhang sowie engste Verwandte und Bekannte da, um Schlamm und Geröll wegzuräumen. Am Montag und Dienstag kam Unterstützung von Leuten vom Zivildienst. «Auch Geschäftspartner schicken Helfer», betont Mösching. Am Mittwoch beispielsweise waren die Mitarbeiter vom Architekturbüro Tschanz den ganzen Tag mit Räumungsarbeiten beschäftigt, das Architekturbüro blieb geschlossen. «Ein Teambildungsanlass der besonderen Art», meinte einer dieser Helfer schmunzelnd. «Die Nachbarschaftshilfe und die Solidarität funktionieren super – auch unter den Gewerbetreibenden», stellen Beat und Lorenz Mösching erfreut fest. «Wir bekamen und bekommen viele Telefonanrufe von lokalen Schreinern, die uns anbieten, ihre Infrastruktur zu benützen oder uns mit Personal auszuhelfen.»
Frisch renoviert … und futsch
Totalschaden erlitten hat auch das Studio im Untergeschoss des Nachbarhauses. «Einen Meter siebzig hoch stand das Wasser, die Betten sind praktisch an der Decke geschwommen», erzählt Marcel Aegerter aus Weggis. Neben freiwilligen Helfern packen am Mittwoch auch seine beiden Söhne an – auch sie haben sich ihre Ferien wohl anders vorgestellt. Erst kürzlich habe er das Haus renovieren lassen – frischer Anstrich, neue Türen, neue Fenster, neue Läden, so Aegerter. «Letzte Woche war ich noch da, um mir die Arbeit anzusehen … ». Zum Glück sei das Studio zur Zeit des Unglücks nicht bewohnt gewesen. Die Mieterin im Obergeschoss hatte den Wohnungsbesitzer informiert und bis zu seinem Eintreffen alles Notwendige organisiert und vorgekehrt. Den Schaden schätzt Marcel Aegerter auf rund 100000 Franken. Auch ihm ist es ein Anliegen, den Feuerwehrleuten, dem Zivilschutz sowie allen freiwilligen Helfern ganz herzlich zu danken.
Die Angst vor neuen Unwettern
Auch andernorts waren am Mittwoch noch viele freiwillige Helfer am Aufräumen und Putzen. Das Unwetter hat Keller, Garagen, Einstellhallen und Büros überflutet und mit einer dicken Schicht Schlamm, der sich wie Beton festsetzt, überzogen. Die Hitze macht die Aufräumarbeit nicht leichter, aber die Laune lässt man sich offensichtlich nicht verderben. «Das bringt ja nichts», meint ein junger Bursche, packt die Schaufel und macht sich wieder an die schwere Arbeit.
Das Unwetter scheint die Leute einander etwas näher gebracht zu haben. Aber nicht nur das Geschehene verbindet sie, sondern auch die Angst vor neuen Unwettern. Man hofft, dass die Wetterpropheten, die für diese Woche fast täglich heftige Gewitter mit Hagel voraussagen, falsch liegen mit ihren Prognosen. Manch einer mag wohl ein Stossgebet zum Himmel geschickt haben, als am Mittwochabend ein Gewitter über die Region zog mit kräftigem Regen und Hagel. Und für die zwei schönen Regenbogen am Gstaader Himmel hatte man aus verständlichen Gründen wohl kaum einen Blick übrig.
von Anita Moser
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