Ein Nachmittag in der Lesewerkstatt

  19.06.2018 Leserbeitrag

STEFAN GURTNER
In der heutigen Bolivienspalte soll es noch einmal um das Thema «Leseverständnis» gehen. Das Problem ist, dass viele Kinder in Tres Soles nicht verstehen, was sie lesen, weshalb wir schon vor langer Zeit einen wöchentlichen Lesenachmittag eingeführt haben. Mehrere Jahre lang habe ich ihn selbst geleitet, bis ich ihn zu meinem grossen Bedauern wegen der Überlastung durch andere Aufgaben abgeben musste. An einem solchen Nachmittag wird die ausgewählte Geschichte, die immer möglichst bunt bebildert sein sollte, vorgelesen. Nach der Lektüre fassen die Kinder die Geschichte mündlich zusammen und müssen Fragen zum Inhalt beantworten. Wenn der Betreuer sich sicher ist, dass alle Kinder den Text verstanden haben, verteilt er Arbeitsblätter, auf denen Übungsaufgaben zu der Geschichte zu lösen sind oder aber es gibt ein Spiel zu spielen, das sich auf den Inhalt des Textes bezieht. Jede Woche wird ein neues und bebildertes Arbeitsblatt hergestellt, denn in Bolivien gibt es kein Schul- oder Spielmaterial, das wie in der Schweiz oder in Deutschland den Schulen zur Verfügung steht oder vom Lehrkörper bestellt werden kann.

Was sind das für Geschichten, die wir vorlesen? Einerseits sind es Geschichten aus der Universalliteratur, vor allem bekannte Märchen, aber auch Geschichten aus der Kinderbibel sowie Erzählungen und Legenden aus Bolivien. «Literatur in Bolivien? Unmöglich!», hat mir einmal jemand entgegnet, als ich mit ihm über das Thema sprechen wollte. Ja, es gibt bolivianische Literatur und auch bolivianische Kinderliteratur! Der Leser mag sich erinnern, dass ich in einer der letzten Bolivienspalten Gaby Vallejo erwähnt habe. Nach einer ihrer Erzählungen hatten wir ein Theaterstück inszeniert. Sie thematisiert unter anderem die alten Legenden aus der Inka- und Kolonialzeit. Manuel Vargas zählt ebenso zu den wichtigen Autoren, der in mehreren seiner Bücher die Geschichten, die vielfach aus mündlicher Überlieferung von Generation zu Generation stammen, nacherzählt, illustriert und in seinem kleinen, aber ungewöhnlichen Verlag selbst herausgibt. Der 1996 gegründete Verlag heisst «Correveidile», was auf Deutsch ungefähr «Lauf-schauund-sag-es-ihm» bedeutet – wenn auch in einem einzigen Wort geschrieben. Wie die meisten engagierten südamerikanischen Schriftsteller erlitt er während der Militärdiktatur Verfolgung und Exil, was aber seine Schaffenskraft nicht gebrochen, sondern scheinbar noch verstärkt hat.

Für einen unserer Lesenachmittage hatten wir seine Erzählung «Der Schmied, der immer noch wartet» ausgewählt. Die Umgebung von Potosí und Sucre, aus der sie stammt, ist besonders reich an Geschichten und Legenden. Die Silbermine Potosí liegt auf einer Höhe von über 4000 Metern und wurde von den Spaniern 1545 entdeckt. Im 16. Jahrhundert war sie die grösste Silbermine der Welt und die Stadt, die noch heute an ihrem Fusse liegt, war eine Zeitlang die grösste Stadt der Welt. Viele der Legenden, die hier erzählt werden, handeln von riesigen Gold- und Silberschätzen, die gefunden und auch wieder verloren wurden; häufig im Bündnis mit dem Teufel und ohne die geringste Rücksicht auf Menschenleben.

Die Geschichte von Manuel Vargas handelt von einem geizigen und habgierigen Schmied, der eines Nachts Besuch von einem unheimlichen Gast erhält: einem Mann in einem schwarzen Umhang und mit einem tief ins Gesicht gedrückten Hut. «Ich will, dass du mir dieses Hufeisen reparierst», sagte er mit seltsamer Stimme, die den Schmied erschauern liess. «Du wirst reich entschädigt werden.»

Der Schmied nahm das Hufeisen und sah, dass es aus reinem Silber war. Jeder gescheite Handwerker hätte den Auftrag abgewiesen, da kein Reiter sein Pferd mit Hufeisen aus Silber beschlägt. Silber ist zwar sehr wertvoll, aber um als Hufeisen zu dienen, viel zu weich. «Aber natürlich!», erwiderte der Schmied und griff hastig nach der ihm dargebotenen Entlohnung. «Ich bringe sogleich das Feuer in Gang und in weniger als einer Stunde ist die Arbeit fertig!»

Obwohl es kalt war, wollte der Besucher vor der Tür auf der Strasse warten. Als der Schmied mit dem reparierten Hufeisen zurückkam, war der merkwürdige Gast jedoch verschwunden. «Es war ihm, als ob er einen eisigen Schlag ins Gesicht erhielte und er blieb stumm und erstarrt in der Nacht stehen», so beschreibt Vargas in seiner Erzählung den Schmied. «Am nächsten Tag, im Morgengrauen, sahen ihn die Nachbarn immer noch dastehen. Und seitdem steht er jede Nacht, nachdem er seine Arbeit beendet hat, vor der Tür seiner Werkstatt und wartet stundenlang, den Blick in die Finsternis gerichtet.» Das Arbeitsblatt, das wir zu dieser Erzählung vorbereitet hatten, enthielt das Bild des unglücklichen Schmieds, wie er mit dem Hufeisen in der Hand auf der Strasse steht und Stichwörter wie Himmel, Mond, Haus, Tür, Strasse, Mann. Die Kinder mussten nun zu jedem Wort ein Synonym suchen und in die darunter stehenden leeren Textzeilen eintragen. Die Zusatzfrage: «Was wird wohl aus dem Schmied werden?» musste ebenfalls beantwortet werden. Die meisten waren sich einig, dass der unheimliche Besucher der Teufel war, der den Schmied für seine Habgier und seinen Geiz bestrafen wollte.

«Aber warum meint ihr, das sei der Teufel, der doch Freude daran hat, wenn wir uns nicht richtig verhalten?», fragte ich herausfordernd. «Warum sollte der Teufel jemanden dafür bestrafen?»

«Moment! Ich habs gleich!», rief Fabiana forsch, die in ihrer Art immer sehr jungenhaft wirkte. «Sowas müsste eigentlich Gott bestrafen, nicht wahr?»

«Also, ich glaube, der Schmied würde von dieser Strafe befreit werden, wenn er etwas weniger geizig und habgierig wäre», warf jetzt Ricardo ein und trommelte sich mit überlegener Miene auf die Brust. Es war nicht ganz klar, ob er sich als mächtiger Teufel sah oder als eine Person, die über Strafen und deren Aufhebung gebieten konnte.

«Wer aber wird ihn befreien, wenn ihn nicht der Teufel bestraft hat?»

«Vielleicht sollte der Schmied den Armen helfen, anstatt das verdiente Geld im Garten zu vergraben, wie es in der Geschichte heisst …»

«Genau, egal ob die Strafe nun von Gott oder vom Teufel kommt!»

«Glaubt ihr also, dass der Schmied wieder schlafen könnte, wenn er das täte?», beteiligte ich mich nach einer kleinen Pause wieder an der Diskussion. «Es ist ja wirklich eine schreckliche Strafe, nicht mehr schlafen zu können und die ganze Nacht vor der Werkstatt stehen zu müssen – stellt euch vor, wie dem am Morgen die Beine wehtun!»

«Er sollte es wenigstens probieren!», rief Ruth und alle stimmten ihr zu. Natürlich lässt diese Geschichte viele Interpretationen und Schlüsse zu, was auch der Sinn und Zweck vieler solcher Legenden, die von dunklen Mächten und übernatürlichen Phänomenen erzählen, sein soll, aber mit dieser Schlussfolgerung hatte unser Lesenachmittag auf alle Fälle seinen Zweck erfüllt.

Stefan Gurtner ist im Saanenland aufgewachsen und lebt seit 1987 in Bolivien in Südamerika, wo er mit Strassenkindern arbeitet. In loser Folge schreibt er im «Anzeiger von Saanen» über das Leben mit den Jugendlichen. Wer mehr über seine Arbeit erfahren oder diese finanziell unterstützen möchte, kann sich beim Verein «Tres Soles», Walter Köhli, Seeblickstrasse 29, 9037 Speicherschwendi, E-Mail: [email protected] erkundigen. Spenden: Tres Soles, 1660 Château-d’Oex, Kto.-Nr. 17-16727-4.

www.tres-soles.de


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