Anton Makarenko und seine erzieherischere Arbeit

  07.08.2018 Leserbeitrag

STEFAN GURTNER
Wie in der letzten Bolivienspalte schon angedeutet, war es vor allem der sowjetische Erzieher und Schriftsteller Anton Semjonowitsch Makarenko, der mich mit seinen Schriften und Ideen über handwerkliche Werkstätten ermutigt hat, für «Tres Soles» neue und kreative Erziehungswege zu suchen. Makarenko wurde 1888 in Bjelopolje in der Ukraine als Arbeitersohn geboren. Noch im zaristischen Russland absolvierte er eine Ausbildung als Lehrer, aber schon früh begann er sich für die sich abzeichnenden politischen Veränderungen zu interessieren, vor allem war er durch das Werk Maxim Gorkis geprägt, der mit seinen gesellschaftskritischen Schriften grossen Einfluss auf die werdenden sowjetischen Intellektuellen hatte. «Für mich und mein Leben war Gorki der Schöpfer des marxistischen Weltgefühls», betonte er. 1920 erhielt er den Auftrag, bei Poltawa gewissermassen aus dem «Nichts» eine Kolonie für straffällige Kinder und Jugendliche zu schaffen. Makarenko zögerte nicht, der Kolonie den Namen des von ihm so verehrten Gorki zu geben. Es war allerdings eine extrem schwierige Lage. Die junge Sowjetunion war vom Ersten Welkrieg und dem nachfolgenden Bürgerkrieg verwüstet, Hunderte und Tausende von elternlosen und verwahrlosten Kindern streunten auf der Suche nach etwas Essbarem durch das Land. Mit Dutzenden solcher Jugendlichen, die «die ganze menschliche Kultur ablehnten», hatte Makarenko nun zu tun. Um zu Überleben, blieb ihm nichts anderes übrig, als von Anfang an auf Erziehung durch Arbeit und Produktion zu setzen, denn vom Staat bekam er in keiner Hinsicht Unterstützung. Nach unvorstellbaren Schwierigkeiten und immer neuen Rückfällen der Kinder in kriminelle Verhaltensweisen entstand schliesslich eine Bäckerei, eine Schmiede, eine Schusterwerkstatt und ein blühender Landwirtschaftsbetrieb. Makarenko sagte stets, dass der Produktions- und Finanzplan der beste Erzieher sei. Schon nach wenigen Monaten bekam er jedoch wegen seiner aussergewöhnlichen Methoden auch Probleme mit den Beamten der staatlichen Volkserziehungsbehörde, die er ironisch «Intelligenzler» und «ach, so weise Pädagogen» nannte. Er wagte es, die «allgemein geltende Anschauung anzuzweifeln, dass man durch Strafe lediglich Sklaven erziehe, dass man dem Schöpferischen im Kinde unbegrenzt freien Spielraum gewähren und sich vor allem auf die Eigenorganisation der Kinder verlassen müsse.»

«Solange noch kein Kollektiv und keine Organe des Kollektivs geschaffen sind, solange es weder Traditionen gibt noch die elementaren Arbeitsgepflogenheiten anerzogen sind, hat der Erzieher das Recht, Zwang auszuüben …», schrieb er Jahre später in seinem Buch «Der Weg ins Leben». Unsere Erfahrungen in den ersten Jahren in Tres Soles bestätigten genau das und erst als unsere Bemühungen um Bewusstseinsbildung Früchte trugen, konnten wir zu einer einigermassen vernünftigen Selbstverwaltung übergehen, einer Selbstverwaltung, die Makarenko im Verlauf der Jahre zunehmend verteidigte. Er bestand immer strikter darauf, dass bestimmte Jugendliche für «die Aufrechterhaltung der Disziplin, für das Werkzeug, für die Leistung und die Qualität der Arbeit verantwortlich sein müssen». Er war so vernarrt, was Disziplin anbetraf, dass er ihr sogar äussere Formen wie Uniformen, Fahnen, Trommeln und militärische Spiele und Übungen gab. Die Entwicklung hin zu einem solchen Hang dürfte dem damaligen geschichtlichen Umfeld geschuldet gewesen sein. Hier ging es jedenfalls nicht mehr um eine Erziehung zum friedlichen Miteinander. Das war eine Erziehung, die zur Verteidigung der sozialen Errungenschaften seiner geliebten «Sowjetmacht» diente, die von allen Seiten bedrängt und wenige Jahre darauf tatsächlich Opfer von Hitlers Angriffskrieg wurde. Überdies war Makarenko entschieden gegen allzu menschliches Verhalten der Betreuer im Umgang mit diesen Jugendlichen, denn er brauchte für seine Werkstätten eher fachlich ausgebildete Kräfte. «Ich hatte erkannt, dass die Überzeugung der Intelligenzler, Kinder schätzten nur den, der ihnen liebevoll entgegenkommt, für unsere Jungen nicht zutraf. Ich war schon lange davon überzeugt, dass Kinder, wie wir sie in unserer Kolonie hatten, die größte Achtung einem anderen ‹Typus Mensch› entgegenbringen. Das, was wir mit dem Wort ‹hochqualifiziert› bezeichnen: sicheres und präzises Wissen, Können, Meisterschaft, goldene Hände, wortkarges Wesen, das Vermeiden leerer Phrasen, stete Bereitschaft zur Arbeit – das ist es, was die Jugend in höchstem Grade mitreisst.» Nach meinen eigenen Erlebnissen teile ich zwar Makarenkos Meinung, allerdings sind heutzutage bei den Erziehern eindeutig fachliche und menschliche Qualitäten von Nöten – und genau das ist es, was die Suche nach geeigneten und engagierten Betreuern, besonders in Bolivien, derart schwierig macht: Die pädagogische Ausbildung für Betreuer und Erzieher ist schlichtweg unzureichend.

Im Jahr 1928, kurz nach einem Besuch des gefeierten Maxim Gorkis in höchsteigener Person, musste Makarenko wegen seiner Differenzen mit den «Intelligenzlern» und den «weisen Pädagogen» die Kolonie verlassen. Er übernahm die Leitung der von ihm in der Nähe von Charkow bereits 1927 mitgegründeten Felix-Dserschinski-Kommune, die von anderen politischen und erzieherischen Instanzen geprägt war als die Gorki-Kolonie. Hier konnte er nun das Prinzip der Erziehung durch Arbeit und Produktion fast bis zur Perfektion entwicklen, bis hin zur Einrichtung einer Fabrik für Bohrmaschinen und sogar einer Fabrik für Fotoapparate. Zwischen 1933 und 1935 schrieb er sein berühmtes Buch «Der Weg ins Leben – ein pädagogisches Poem», das er erst auf Drängen Gorkis selbst veröffentlichte: «Ihr pädagogisches Experiment, das von immenser Bedeutung und erstaunlich gelungen ist, hat Weltbedeutung.» 1938 veröffentlichte er den Roman «Flaggen auf den Türmen», der anhand des Schicksals verschiedener Jugendlicher den Werdegang der Dserschinski-Kommune schildert. 1935 gab er die Leitung dieser Kommune ab und betätigte sich seither als freier Schriftsteller. «Ich habe nicht aufgehört, Pädagoge zu sein, sondern nur die Waffe gewechselt», sagte er einmal zu seinem «Berufswechsel». Am 1. April 1939 starb Anton Semjonowitsch Makarenko im Alter von 51 Jahren in Moskau, nachdem er verschiedene Orden und Auszeichnungen erhalten hatte, leider viel zu früh.

Verein «Tres Soles», Walter Köhli, Seeblickstrasse 29, 9037 Speicherschwendi, E-Mail: [email protected]. Spenden: Tres Soles, 1660 Château-d’Oex, Kto.-Nr. 17-16727-4. www.tres-soles.de


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