Die Nähwerkstatt

  21.09.2018 Leserbeitrag

STEFAN GURTNER

Teil 1
Mit dem Thema «Die Nähwerkstatt» werde ich in dieser Bolivienspalte die Reihe über unsere Werkstätten eröffnen und sie einzeln vorstellen. Das Prinzip der handwerklichen Arbeit als Erziehungsinstrument nach Bakunin spielt auch in «Tres Soles» eine bedeutende Rolle.

Ausländische Besucher sind immer wieder begeistert von den bunten Stoffen der Hochlandindianer. Diese rechteckigen Stofftücher, die die indigene Bevölkerung auf den Rücken gebunden trägt, um ihre Habe, Einkäufe, kleinen Kinder oder schlichtweg alles darin zu befördern, heissen auf Aymara «aguayo» und auf Quechua «llijlla». Die Stoffe haben ein Streifenmuster, wobei sich sehr farbintensive Streifen, die in seltsamem Gegensatz zur oft öden und grauen Landschaft des Altiplanos stehen, mit Streifen abwechseln, in denen kleine stilisierte Blumen und Tiere eingewebt sind. Diese Tücher werden seit vielen Jahrhunderten verwendet. Zur Kolonialzeit konnte man auf den Stoffen tatsächlich Hieroglyphen erkennen, die nach wissenschaftlichen Erkenntnissen eine Zeichensprache darstellten, die die Geschichte der jeweiligen Familie erzählte, in deren Besitz sich das Tuch befand: Herkunftsort, Anzahl der Kinder, Todesfälle usw.

In der Anfangsphase in El Alto, als die meisten Kinder und Jugendlichen noch in Abendschulen und manche überhaupt nicht zur Schule gingen und somit viel mehr Zeit zur Verfügung hatten als heute mit einem geregelten Schulalltag, kam uns die Idee, aus modernen «aguayos», besagten Stofftüchern, Tischtücher, Tischsets, Rucksäcke, Markttaschen, Umhängetaschen, Federtaschen und Schlüsselanhänger zu nähen. Die Stoffe werden heute allerdings meistens industriell hergestellt. Jahr für Jahr vergrösserten wir das Angebot an Produkten und verbesserten die Qualität. Wir schlossen uns einer Kooperative an, die Ende der Achtzigerjahre, 1989, als unsere Wohngemeinschaft Tres Soles gegründet wurde, anfing, in grossem Stil erstklassiges Kunsthandwerk herzustellen und zu exportieren. Die Genossenschaft nannte sich «Asociación Artesanal Boliviana Señor de Mayo» und war zur Zeit des Neoliberalismus und noch lange vor der sozialistischen Regierung von Evo Morales gemeinschaftlich organisiert. Der Gewinn wurde in Form von Materialien und Lebensmitteln an die verschiedenen selbstverwalteten Produktionsgruppen verteilt. Die Leiterin hiess Antonia Rodriguez, eine sehr energische Frau, die aus bescheidensten Verhältnissen stammte. Sie war es, die unsere Nähwerkstatt, ein Raum mit einem grossen Tisch und drei oder vier Nähmaschinen, auf Qualität und regelmässige Produktion trimmte, denn es gab Verträge, die erfüllt werden mussten. Es kam vor, dass wir in kürzester Zeit 300 Portemonnaies oder 100 Taschen abliefern mussten. Heute machen der Schulbesuch und die Hausaufgaben eine solche Produktion unmöglich, weshalb wir uns aus der Kooperative zurückziehen mussten. Das Prinzip, dass «die Menschen unsere Produkte nicht aus Mitleid, sondern um ihrer Qualität willen kaufen sollen», wie es in einer unserer Zielsetzungen heisst, haben wir allerdings stets aufrechterhalten. «Die Qualität wird von Guisela streng kontrolliert», erklärt Margarita einem Besucher, als sie ihm stolz die Werkstatt und die genähten Produkte im zweiten Stock unserer Wohngemeinschaft präsentiert. «Auch passen wir unser Angebot immer wieder der Mode an. Sehen Sie sich nur diese Bananentaschen oder diese Püppchen an.» Die «Püppchen» sind Schlüsselanhänger, die aus Stoffresten von den Jüngsten in der Nähwerkstatt angefertigt werden. Margarita war in ihrer Zeit als Gymnasialschülerin neben Rolando, der Veterinärmedizin studiert, eine der Hauptstützen der Nähwerkstatt und der Wohngemeinschaft überhaupt. Sie war immer sehr fleissig und oft reichte ihre Zeit gar nicht aus, um all das zu schaffen, was sie sich vornahm. Überdies war sie auch noch Mitglied der Theatergruppe, was allein schon sehr zeitintensiv ist. «Und was macht ihr mit dem Geld? Ich meine, ihr arbeitet doch nicht unentgeltlich?», will der Besucher von Margarita wissen. Der Besucher aus Deutschland gehörte zur Reisegruppe eines alternativen Reiseveranstalters in Freiburg. Das Tourismusgeschäft ist jedoch in Bolivien in den letzten Jahren stark eingebrochen, einerseits wegen der instabilen, politischen Lage, anderseits wegen der herrschenden Unsicherheit. Seitdem diese deutschen Reisegruppen nicht mehr kommen, ist Besuch bei uns im Projekt allerdings seltener geworden.

«Nein, natürlich arbeiten wir nicht umsonst», erwidert Rolando, für den die Arbeit in der Nähwerkstatt eine wichtige Einnahmequelle ist, da das Stipendium, das er innerhalb unseres Berufsausbildungsprogramms im Studentenund Lehrlingsheim Luis Espinal erhält, nicht ausreicht, um die Kosten seines Studiums zu decken.

«Wir verkaufen unsere Nähprodukte an Tres Soles und Tres Soles kümmert sich um den Weiterverkauf. Einen Teil des erlösten Geldes bekommen wir als Lohn, je nachdem, wie viel wir produziert haben, der andere Teil wird in Material investiert. Alle drei bis vier Monate schicken wir ein grosses Paket* nach Deutschland, wo die Waren einschliesslich der Sonderaufträge an die Kunden verteilt werden. Meistens handelt es sich um Unterstützer des Projekts oder auch um sogenannte Eine-Welt-Läden», fügt Guisela hinzu, die seit vielen Jahren für die Nähwerkstatt verantwortlich ist.

«Selbstverständlich führen wir genauestens Buch über das, was produziert und verschickt wird, damit niemand behaupten kann, dass wir die Jugendlichen ausbeuten. Häufig herrscht in der Gesellschaft, gerade leider auch in der gegenwärtigen Regierung unter Morales, das Vorurteil, dass sich die Nichtregierungsorganisationen, zu denen wir gehören, auf Kosten der Armen bereichern. Die Einnahmen aus dem Verkauf fliessen auf das Tres-Soles-Konto in Deutschland, von dem vierteljährlich der Betrag, den wir benötigen, an uns geschickt wird, und helfen also mit, einen allerdings kleinen Teil der Kosten des Projekts zu tragen.»

«Und ihr, was macht ihr mit dem Geld, das ihr in der Nähwerkstatt verdient?», hakt der kritische Besucher nach und Margarita klärt ihn auf: «Wir kaufen uns Kleidung, denn für die über 14-Jährigen stellt Tres Soles keine Kleidung mehr, abgesehen von der Schuluniform.»

«Und bist du damit einverstanden?» «Natürlich! Wir müssen doch lernen, für uns selbst verantwortlich zu sein. Ausserdem geht man mit Dingen, die man sich selbst kaufen muss, achtsamer um. Sehen Sie doch nur, wie die Kleinen mit den Sachen, die sie geschenkt bekommen haben, umgehen … » Tatsächlich war und ist es ein täglicher Kleinkrieg mit den «Kleinen», sie anzuhalten, dass die Kleidung sauber und in Ordnung gehalten wird.

«Das hört sich doch gut an, wenn ihr dadurch auf eure Sachen achtet! Ihr erlernt nicht nur eine Fertigkeit, sondern darüber hinaus auch noch nützliche Dinge fürs Leben, nicht?», beendet der Besucher zufrieden das Gespräch. Margarita und Rolando nicken.

*Leider ist die Post in Bolivien in Konkurs gegangen, sodass wir momentan auf unsere Freiwilligen und Besucher aus Europa angewiesen sind, um die Sachen nach dort zu transportieren.

Wer mehr über die Arbeit von Stefan Gurtner erfahren oder diese finanziell unterstützen möchte, kann sich beim Verein «Tres Soles», Walter Köhli, Seeblickstrasse 29, 9037 Speicherschwendi, E-Mail: [email protected] erkundigen. Spenden: Tres Soles, 1660 Châteaud’Oex, Kto.-Nr. 17-16727-4. www.tres-soles.de


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