Die Geschichte von José

  30.10.2018 Leserbeitrag

In den kommenden Bolivienspalten werde ich zum Abschluss des Themas die Lebensgeschichten einiger Jugendlicher erzählen, wie ich es auch in den vorangegangenen Bolivienspalten zum Thema «Erziehung durch Kunst» gemacht habe. Es mag vielleicht sehr naiv und einfach klingen, wenn die Rede davon ist, dass die Nähwerkstatt das Leben der Kinder und Jugendlichen beeinflusst hat, aber in der Tat war dies bei einigen auf die eine oder andere Weise der Fall. Selbstverständlich gehören zu einem solchen Prozess viele Faktoren, die zusammenspielen müssen, damit die Arbeit zum «Erfolg» führt, aber es gibt immer ein entscheidendes Kriterium, das letzten Endes den Ausschlag gibt. Im Fall von José war es eindeutig die Arbeit in der Nähwerkstatt, die ihn motivierte. José gehörte Anfang der neunziger Jahre zu einer der ersten Generationen von Jugendlichen in der Wohngemeinschaft. Er war von Anfang an sehr verantwortungsbewusst, übernahm innerhalb der Gruppe wertvolle Initiativen und die Kleinen hatten ihn gern, denn er spielte stundenlang und äusserst geduldig mit ihnen und beschützte sie vor Übergriffen der Älteren. Aber bereits mit 14 oder 15 Jahren hatte er ein grosses Alkoholproblem. Trotz aller Therapiebemühungen des damaligen Psychologen kam es immer wieder zu Rückfällen. In meinem ersten Buch über das Projekt schildere ich, wie er einmal betrunken mit blossen Fäusten sämtliche Fensterscheiben der Wohngemeinschaft zerschlug. «Die Wohngemeinschaft und nur die Wohngemeinschaft ist schuld an allem», brüllte er, während die anderen versuchten, ihn zu überwältigen. «Ihr alle seid schuld daran, dass ich es nicht schaffe, mich zu ändern.»

Seine Schnittwunden mussten im Krankenhaus genäht werden. Als sie verheilt waren, musste er mehrere Wochen lang in der Backstube arbeiten, ohne auch nur einen einzigen Centavo dafür zu erhalten, damit er den Schaden, den er angerichtet hatte, abzahlen konnte. «Eigentlich würde ich lieber in der Nähwerkstatt arbeiten», sagte er eines Tages zu Guisela und sie nahm ihn noch am selben Tag beim Wort.

Gewiss hatte José seine Gründe, weshalb er trank, aber es waren nicht mehr und nicht weniger Gründe als die anderen sie hatten, abgesehen von den üblichen Ausreden wie «die Freunde haben mich zum Trinken gezwungen» oder «meine Freundin hat mich mit einem anderen betrogen.» Josés Mutter war gestorben, als er zehn und sein jüngerer Bruder Edwin sieben Jahre alt war. Das blieb eine unverrückbare Tatsache und damit begann der Leidensweg der beiden Brüder. Der Vater hatte sich nie um die beiden gekümmert und war zu einer anderen Frau gezogen. Die Erlebnisse der Jungen und Mädchen von Tres Soles gleichen sich auf traurige Art und Weise vielfach wie ein Ei dem anderen, und es lohnt sich daher in diesem Fall nicht, auf Einzelheiten einzugehen. Als José und Edwin nach dem Tod ihrer Mutter – die anderen zahlreichen Geschwister waren schon bei anderen Verwandten untergebracht –- bei ihrem Vater Unterschlupf suchten, wies er sie schroff ab. Sie sassen buchstäblich auf der Strasse. Als sie zu Tres Soles kamen, waren sie schon in mehreren Kinderheimen und Einrichtungen gewesen und hatten zwischendurch immer wieder auf der Strasse gelebt. Besonders für José, der sich all die Jahre rührend um seinen jüngeren Bruder gekümmert hatte, war es nicht einfach, bei uns in Tres Soles Fuss zu fassen. «Ich hasse meinen Vater», wiederholte er bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit. Immer, wenn er betrunken war, suchte er seinen Vater auf und legte sich mit ihm an.

«Du musst dich vernünftig beschäftigen, du musst in die Zukunft schauen», redete ihm Guisela gut zu, als sie mit ihm in der Nähwerkstatt zu arbeiten anfing. «Vergiss deinen Vater, wie er dich vergessen hat. Du kannst es besser als er machen.»

Natürlich gingen die Veränderungen mit José nicht von einem Tag zum anderen vor sich, aber die Arbeit in der Nähwerkstatt nahm ihn ganz in Beschlag. Wir hatten zur damaligen Zeit viel Arbeit, da wir gerade Teil der Kooperative Asociación Artesanal Boliviana Señor de Mayo geworden waren (ich habe in der letzten Bolivienspalte darüber berichtet). Oft gab es regelrechte Grossaufträge und Guisela und die Jugendlichen waren äusserst gefordert, um die Qualitätsansprüche und Liefertermine zu erfüllen. Gefragt waren vor allem Rucksäcke, Taschen und Portemonnaies aus den typischen bunten Indianerstoffen. José erwies sich als sehr geschickt und lernte schnell, mit der Nähmaschine umzugehen. Innerhalb weniger Monate wurde er Guiselas rechte Hand, Rückfälle hatte er nur noch selten. Er wurde mit der Zeit sogar so vertrauenswürdig, dass wir ihn zur Kooperative schicken konnten, um die Schecks abzuholen und sie in der Bank einzulösen – ohne dass wir uns sorgen mussten, dass er rückfällig und das Geld für Alkohol missbrauchen würde; denn mit diesem Geld bezahlten wir die Jugendlichen und kauften davon neues Material. José träumte davon, eine Ausbildung als Schneider zu machen. Doch dann geschah etwas Unbegreifliches. José stand kurz vor dem Schulabschluss – er hatte die letzten Jahre eine Abendschule besucht – als er eines Tages, als er wieder einen Scheck abholen sollte, nicht mehr zurückkam. Rückfragen ergaben, dass er den Scheck bei Antonia, der Verantwortlichen der Kooperative, abgeholt und auf der Bank eingelöst hatte. Es handelte sich hierbei um eine grössere Summe. «Wie schade, aus dem Jungen wäre etwas geworden», meinte Antonia, während Guisela stumm und in ihren Grundfesten erschüttert vor ihr sass. Es war ein harter Schlag für uns. Eine Weile befürchteten wir, dass er womöglich überfallen worden oder ihm sonst etwas passiert war, aber alle Nachforschungen blieben ergebnislos. Nicht einmal sein Bruder Edwin wusste, wo er war, bis José uns schliesslich anrief, dass wir uns keine Sorgen machen und ihm verzeihen sollten. Er sei von Freunden überredet worden, als Gastarbeiter nach Argentinien zu ziehen. Seither lebt José in Argentinien und arbeitet dort als Näher. Es scheint ihm nicht schlecht zu gehen. Kürzlich besuchte er uns. Die Jugendlichen, die er noch aus seiner Zeit in Tres Soles hätte kennen können, waren mittlerweile alle ausgeflogen. Wehmütig sah er sich in der Nähwerkstatt um. «Wenn ihr euch Mühe gebt, das Nähen richtig zu erlernen, könnt ihr eines Tages im Ausland arbeiten», meinte er zu Margarita und Rolando, die gerade mit einigen Rucksäcken beschäftigt waren. «Zum Beispiel in Argentinien …», fügte er noch hinzu. José war derart überzeugend und seine Worte hinterliessen einen solchen Eindruck bei Margarita und Rolando, dass sie bei uns zu einem «geflügelten Wort» wurden und Eingang in die Zielsetzungen der Nähwerkstatt fanden.

Stefan Gurtner ist im Saanenland aufgewachsen und lebt seit 1987 in Bolivien in Südamerika, wo er mit Strassenkindern arbeitet. In loser Folge schreibt er im «Anzeiger von Saanen» über das Leben mit den Jugendlichen. Wer mehr über seine Arbeit erfahren oder diese finanziell unterstützen möchte, kann sich beim Verein «Tres Soles», Walter Köhli, Seeblickstrasse 29, 9037 Speicherschwendi, E-Mail: [email protected] erkundigen. Spenden: Tres Soles, 1660 Château-d’Oex, Kto.-Nr. 17-16727-4. www.tres-soles.de


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