Klingel oder Glocke

  16.11.2018 Leserbeitrag

Es gab einmal eine Quizfrage, die lautete: «Warum darf ein Hund nicht Velo fahren?» Antwort: «Weil er keinen Daumen hat zum Klingeln.» Heute macht diese Antwort auf diese Frage keinen Sinn mehr. Denn seit Januar 2017 ist die Klingel nicht mehr obligatorisch. Jahrelang wurde schon den Kindern eingebläut, dass ein strassentüchtiges Velo eine Glocke braucht. Wenn die Klingel fehlte, konnte man sogar gebüsst werden. Aber keine Regel ohne Ausnahme: Nur Velos mit einem Leergewicht von mehr als 11 kg mussten nach dem Gesetz eine «gut hörbare Glocke aufweisen». Mit dieser Gewichtsobergrenze wollte man die Rennvelofahrer vor zusätzlichen Schweisstropfen schützen. Heute wiegen aber auch ganz normale Velos meistens weniger als 11 kg. Doch der Bundesrat hat nicht die Gewichtsgrenze gesenkt, sondern ganz einfach die Glockenpflicht aufgehoben, jedoch mit dem Hinweis, dass die Aufhebung dieser Pflicht keinem Verbot entspreche. Es ist nach wie vor sinnvoll, am Velo eine Glocke zu montieren. Und es ist nicht nur sinnvoll, damit die Kinder unterwegs auf dem Velo ein wenig Musik machen können, sondern vor allem aus Sicherheitsgründen. Und es ist auch sinnvoll, um die Wanderer auf Wanderwegen frühzeitig darauf aufmerksam zu machen, dass sie auf den Wanderwegen nicht mehr alleine unterwegs sind. Für Wanderer ist es nämlich immer wieder schreckhaft und gefährlich, wenn Mountainbiker auf den einsamen Bergwegen plötzlich aus dem Nichts auftauchen und erst unmittelbar hinter den Wanderern rufen: «Achtung!»

Dass zur Ausrüstung eines Velos keine Glocke mehr nötig ist und dass Velofahrende nun lautlos unterwegs sein dürfen, passt gut in unsere Zeit. Im Lärm des motorisierten Verkehrs und im Lärm der heutigen Zeit passiert auch sonst ja manches unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Man heiratet zum Beispiel still und heimlich, man nimmt im engsten Familienkreis Abschied am Grab von einem geliebten Menschen oder man zieht um in eine andere Ortschaft, ohne von den Nachbarn Abschied zu nehmen. Und nun kann man eben auch mit dem Velo still und heimlich durch die Landschaft fahren.

Doch die Kirchenglocken und Kuhglocken bleiben. Damit die Bauern immer wissen, wo ihr Vieh gerade am Grasen ist, bimmeln Kuhglocken sogar ständig. Mit den Veloglocken, die noch übrig bleiben, wird jedoch normalerweise nur geklingelt, wenn es nötig ist. Würden Velofahrende jedoch ständig bimmeln, würden sie auch dann nicht beachtet, wenn es nötig wäre oder Gefahr droht. Velofahrenden, die ständig klingeln, erginge es wie den chronischen Vielrednern: Man hört auch dann nicht mehr auf die Vielredner, wenn sie ausnahmsweise einmal etwas Wichtiges zu sagen haben.

Mit oder ohne Veloglocke muss man sich im Alltag aber auch weiterhin ab und zu bemerkbar machen und sagen, was gesagt werden muss. Denn Erwartungen, die nicht ausgesprochen werden, führen sonst zu Enttäuschungen. Liebe, die nicht auch hörbar mitgeteilt wird, kommt nicht richtig an. Und gute Ideen oder Aktionen helfen und verändern die Welt nur, wenn man darüber spricht und andere dafür begeistern kann. Nach dem Grundsatz: «Tue Gutes und rede davon.» Rein persönliche Aufmerksamkeit, die man sich im Alltag erkämpfen muss, hat normalerweise jedoch kaum Bedeutung. Es sei denn, man mache eben mit der Veloglocke auf sich aufmerksam, um einen Zusammenstoss mit Fussgängern oder spielenden Kindern zu verhindern oder um Wanderer auf Wanderwegen nicht zu erschrecken. Alten Bekannten oder Freundinnen, denen man ganz unerwartet unterwegs begegnet, kann man natürlich auch immer ein kurzes Klingelsignal geben und ihnen zuwinken und zulächeln. Aber eben nur, wenn die Glocke am Velo noch nicht abmontiert ist.

ROBERT SCHNEITER


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